Interview

Klassenjustiz: „Vor den Bezirksgerichten haben die meisten Angeklagten keinen Anwalt“

Oliver Scheiber ist seit 20 Jahren Richter in Wien und Vorsteher des Bezirksgerichts Meidling. In seinem Buch „Mut zum Recht“ hat Scheiber die Klassenjustiz in Österreich kritisiert. „Wenn man daran denkt, dass das Strafrecht die größten Gefährdungen für die Gesellschaft und den einzelnen Menschen bestrafen soll, dann müsste man viel mehr Ressourcen in Umwelt-, Klima- und Wirtschaftskriminalität stecken, weil dort liegen die großen Gefahren für unsere Gesellschaft“, sagt der Richter im Interview. Stattdessen beschäftigen sich Bezirksgerichte mit Ladendiebstahl im Wert von 15 Euro. 

Sie sind seit 20 Jahren Richter in Österreich. Sind vor dem Gesetz alle gleich?

Scheiber: Ja und alles andere wäre auch schlimm. Unser Justizsystem liegt im europäischen Vergleich im Spitzenfeld und die Schwächen, die unser Justizsystem hat, betreffen auch viele andere Länder in Europa. Ein Problem in Österreich sind zum Beispiel die Gerichtsgebühren, die relativ hoch sind. In Österreich zu prozessieren, ist in den meisten Fällen sehr teuer.

Und das ist eine finanzielle Hürde. Wie teuer kommt mir in Österreich zum Beispiel ein Rechtsstreit mit meinem Vermieter?

Scheiber: Wenn ich eine Klage oder einen Antrag bei Gericht einbringe, muss ich zunächst einmal eine Gebühr bezahlen. Von der kann man bei Bedürftigkeit befreit werden. Dazu kommen dann die Anwaltskosten, weil sich die meisten Menschen mit einem Anwalt oder Anwältin sicherer fühlen oder sie brauchen, um ihr Recht geltend zu machen. Wenn man das Mietrechtsverfahren gewinnt, bekommt man die Anwaltskosten zurück. Aber alleine die Bevorschussung ist für einen Normalhaushalt in der Regel ein Problem.

Mit wie viel Geld muss ich da konkret rechnen?

Scheiber: Die Gerichtsgebühren bei einem Bezirksgericht liegen bei ein paar hundert Euro. In einem recht normalen Mietrechtsverfahren kommen da 5.000 bis 10.000 Euro Anwaltskosten dazu. Oft werden noch Sachverständiger hinzugezogen, etwa für Bau- oder Verkehrsfragen, das sind Kosten zwischen 500 bis 3.000 Euro. Das ist für die meisten Bürgerinnen und Bürger viel Geld.

Sie schreiben: “Wer einen Vormittag auf einem Wiener Bezirksgericht verbringt, wird merken, wie viel Aufwand in Bagatelldelikte geht.” Konzentrieren sich Polizei und Justiz zu sehr auf Ladendiebstahl oder Drogenkranke – und zu wenig auf Wirtschafts- und Finanzkriminalität?

Scheiber: Ich würde das so sagen, ja! Das ist aber kein österreichisches Phänomen, sondern ein weltweites. Seit ein paar hundert Jahren werden im Strafrecht Diebstähle und leichte Körperverletzungen mit sehr viel Aufwand verfolgt und abgeurteilt.

Wenn man daran denkt, dass das Strafrecht die größten Gefährdungen für die Gesellschaft und den einzelnen Menschen bestrafen soll, dann müsste man viel mehr Ressourcen in Umwelt-, Klima- und Wirtschaftskriminalität stecken, weil dort liegen die großen Gefahren für unsere Gesellschaft. Denken wir an die Verseuchung von Trinkwasser oder Müllkriminalität, die zu Krebserkrankungen führen kann oder an die Wirtschaftskriminalität, die Milliardenschäden anrichtet – das sind die Felder, in die das Strafrecht mit seiner ganzen Kraft hineingehen müsste.

Gibt es Entwicklungen in diese Richtung? Zum Beispiel durch die Gründung der Wirtschafts- und Korruptionsanwaltschaft in Österreich unter Justizministerin Maria Berger im Jahr 2009?

Scheiber: Der Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität und die Korruption ist in den letzten Jahren deutlich mehr im Fokus gestanden. Die Justiz hat viele Erfolge in ihren Ermittlungsverfahren erzielt.

Bei der Wirtschaftskriminalität geht der internationale Trend in Richtung Abschöpfung von kriminellem Vermögen. Da geht es darum, kriminellen Netzwerken nicht nur zu bestrafen, sondern ihnen das Geld wegzunehmen. Etwa Immobilien frühzeitig zu beschlagnahmen, die illegal erworben worden sind. So kann man sich die kriminellen Gelder zurückholen, die der Gesellschaft verloren gehen. Da wäre noch Potenzial für Österreich.

Bei der Umwelt- und Klimakriminalität tut sich noch sehr wenig.

Und sollte man im Gegenzug kleine Delikte weniger stark bestrafen?

Scheiber: Ich denke schon. Vor 20 Jahren gab es einen großen Entkriminalisierungsschritt als die Diversion im Strafrecht eingeführt wurde. Dort, wo man früher wegen einem Diebstahl von einem Kaugummi oder einem Parfum bestraft wurde, hat man begonnen, gemeinnützige Arbeit aufzugeben oder bei Alkohol- oder Drogenkranken Entzugstherapien aufzutragen. Dafür hat der Staat auf die Bestrafung verzichtet, das hat die Zahl der Verurteilten nach unten gehen lassen.

Es landen aber immer noch viel zu viel kleine Diebstähle vor Gericht. Im Bezirksgericht geht es oft um Ladendiebstahl im Wert von 15 Euro. Da ist der Einsatz der Ressourcen einfach fehlgeleitet, weil es in diesen Fällen meistens sozialarbeiterische oder medizinische Maßnahmen braucht – und keine juristischen. Das ist eine Frage der Vernunft und der Rücksichtnahme auf den Betroffenen, der oft an Armut oder Krankheit leidet.

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„Im Strafrecht werden kleine Delikte wie Ladendiebstahl mit sehr viel Aufwand verfolgt. Man müssten viel mehr Ressourcen in Umwelt-, Klima- und Wirtschaftskriminalität stecken“, sagt Richter Oliver Scheiber im Zoom-Interview mit Patricia Huber von Kontrast.

Ein weiterer Klassenaspekt im Justizsystem ist die Frage der Rechtsvertretung. Hat jeder und jede das Recht auf einen Anwalt in Österreich?

Scheiber: Im Familienrecht kann man weitgehend ohne Anwalt oder Anwältin auftreten, da wird man dann vom Richter oder der Richterin angeleitet und informiert. Das gibt es auch bei kleineren Zivilverfahren, etwa bei Mietstreitigkeiten oder bei Verkehrsverfahren mit einem Schaden unter 2.000 Euro. Auch im Strafrecht kann ich mich selbst verteidigen vor einem Gericht, wenn ich nur wegen eines Ladendiebstahls angeklagt bin.

Vor den Bezirksgerichten ist der Großteil der Angeklagten nicht durch einen Anwalt vertreten.

Die Richterinnen und Richter versuchen faire Bedingungen zu schaffen, aber wenn es einen eigenen Verteidiger gibt, wird die Position natürlich besser sein. Man fühlt sich sicherer, man kann sich besser vorbereiten und so weiter.

Es gibt schon Möglichkeiten, unentgeltlich einen Anwalt zu bekommen. Das ist in den letzten Jahren auch ausgedehnt worden, etwa die Prozessbegleitung für Opfer von Straftaten. Wenn ich heute Opfer eines Gewaltdelikts werde, bekomme ich vom Staat kostenlos psychologische und juristische Betreuung angeboten. Und dann gibt es überall dort, wo man gesetzlich einen Anwalt braucht, sich aber keinen leisten kann, die Möglichkeit der Verfahrenshilfe. Das heißt: Ich fülle ein Formular aus, gebe meine Vermögenssituation an und wenn mein Einkommen unter 1.300 Euro netto liegt, dann bekomme ich einen Anwalt beigestellt – den kann man dann aber nicht frei wählen. Es bleibt aber eine relativ große Gruppe übrig, die mehr als 1.300 Euro verdient, für die die Anwaltsvertretung aber trotzdem oft zu teuer ist.

Wie kann man hier mehr „Waffengleichheit“ herstellen?

Scheiber: In Israel ist die Verfahrenshilfevertretung zum Beispiel vollständig ins Justizsystem integriert. Da gibt es auch einen Pool von angestellten Anwältinnen und Anwälten, die Verfahrenshilfevertretung machen. Man müsste mehr Geld investieren, die Verfahrenshilfe großzügiger handhaben und die Einkommensgrenze für kostenlose Verfahrenshilfe zum Beispiel auf 2.000 Euro netto im Monat erhöhen. Man könnte auch verpflichtende Rechtsschutzversicherungen in bestimmten Bereichen machen.

Dann gibt es im Konsumentenschutz Instrumente wie die Sammelklage, bei der sich viele Leute mit ähnlichen Interessen zusammenschließen und jeder trägt nur einen kleinen Anteil der Prozesskosten. Österreich hat aber bisher noch kein einfaches Sammelklagesystem.

Hat die Haft bei den meisten Insassen mehr negative oder positive Wirkungen? Und wie gut erfüllt sie ihre Funktion für den Rest der Gesellschaft?

Scheiber: Aktuell sind in Österreich 8.000 bis 9.000 Menschen in Haft, ein Teil ist in Untersuchungshaft und ein Teil in der Strafhaft nach einer Verurteilung. Die Möglichkeiten, sich im Gefängnis zu bessern, zu lernen und etwas Neues zu finden, mit dem man dann draußen besser leben kann, die sind eher schlechter geworden. Weil man Jahrzehntelang den Strafvollzug vernachlässigt hat, da waren die letzten großen Entwicklungen in den 70er und 80er Jahre. In Österreich haben wir zum Beispiel einen hohen Anteil an Wachpersonal und einen geringen Anteil an Psychologen, medizinischer Betreuung und Sozialarbeit. Es gibt auch wenig Fortbildungsmöglichkeit in der Haft. Man hat in den letzten Jahren versucht da etwas gegenzusteuern, aber da bräuchte es viel Geld, um Fortschritte zu machen.

Seit dem Internet ist der Unterschied zwischen einem Leben innerhalb und außerhalb des Gefängnisses noch viel größer geworden als das etwa vor 50 Jahren war. Die Freiheitsbeschränkung an sich ist schon schlimm, aber wenn ich keinen Internetzugang habe, dann verliere ich heute viel von dem, was unser soziales Leben ausmacht: Ich kann nicht schauen, wie es den Kindern und der Partnerin geht, ich weiß nicht, was sich in der Welt tut. Das macht es nach der Haft dann noch schwerer, wieder im Leben Fuß zu fassen.

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„Bei der Wirtschaftskriminalität geht der internationale Trend in Richtung Abschöpfung von kriminellem Vermögen, um sich die Gelder zurückzuholen, die der Gesellschaft verloren gegangen sind. Da wäre noch Potenzial für Österreich“, sagt Richter Scheiber.

Zwei Drittel aller Gefängnisstrafen sind kürzer als 6 Monate. Blöd gefragt: Was bringt das?

Scheiber: Es sind sich eigentlich alle einig, dass die kurzen Gefängnisstrafen wenig Sinn haben. Wenn ich vier oder fünf Monate im Gefängnis bin, werde ich dadurch aus dem Leben gerissen, ich verliere meinen Arbeitsplatz und die Beziehung geht oft in die Brüche. Umgekehrt kann die Justizanstalt wenig mit dem Insassen arbeiten. Weil was soll man in vier oder fünf Monaten groß machen? Da kann man weder eine Therapie noch eine Ausbildung machen. Diese kurzen Strafen sind ein Dauerproblem im Justizsystem.

Was wäre für die besser?

Scheiber: Man müsste Alternativen zur Strafhaft finden. Man hat das jetzt mit der Fußfessel begonnen. Ein großer Teil der Verurteilten, die davor eine Haftstrafe von vier oder fünf Monaten bekommen haben, bekommen jetzt die Fußfessel. In diese Richtung wird man weitergehen müssen.

In Österreich wird die Haft oft bei prominenten Fällen hinterfragt. Zum Beispiel, wenn eine ehemalige Ministerin in U-Haft sitzt. Sonst eher selten…

Scheiber: Die prominenten Fälle wären ein guter Anlass, um über Gefängnis und Haft insgesamt nachzudenken. Grausam ist es immer, wenn man im Gefängnis ist, bei den Promis fällt es halt allen auf. Da wird dann gefragt: “Ist das wirklich notwendig? Ist die Untersuchungshaft notwendig?” Aber es sind 8.000 bis 9.000 Menschen, die jeden Tag in Haft sind in Österreich. Und die leiden genauso, dass sie ihre Kinder nicht sehen, nicht wie wir alle fernsehen und chatten können. Alles, was man im Alltag eben so tut.

Können Sie als Richter eigentlich einen Zusammenhang beobachten zwischen der sozialen Ungleichheit oder der Armut, die es in einer Gesellschaft gibt, und den Fällen, die bei Ihnen landen?

Scheiber: Was wir ehr stark sehen, ist dass es eine gar nicht so kleine Gruppe von Menschen mit niedrigen Einkommen gibt, die sehr schwer durch den Monat kommen mit dem Einkommen. Außerdem gibt es sehr viele Menschen mit ernsten psychischen Erkrankungen, die oft auf den ersten Blick nicht so sichtbar sind. Richtig auffällig wird das dann erst, wenn sie vor Gericht landen, aber das Leben dieser Menschen ist auch vorher schon schwer. Wir sehen vor Gericht sehr stark, dass die psychiatrische Versorgung nicht ausreichend ist – vor allem im ländlichen Bereich fehlen niedergelassene psychiatrische Ärztinnen und Ärzte. Das wirkt sich aus und schafft viel Leid.

Oliver Scheiber: Mut zum Recht! Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat

In seinem Buch kritisierte Oliver Scheiber die Klassenjustiz in Österreich. “Wir verfolgen mit dem Strafrecht nicht die richtigen Delikte”, meint der Richter. Der Fokus liegt zu sehr auf Kleindieben und Drogenkranken und nicht auf Finanz- und Umweltverbrechen, obwohl die einen viel größeren Schaden für die Gesellschaft anrichten. Ein Problem beschreibt Scheiber auch in der Ungleichheit bei der anwaltlichen Vertretung: Vor den Bezirksgerichten ist der Großteil der angeklagten Kleinkriminellen nicht durch einen Anwalt vertreten. Umgekehrt gilt: Je mehr Geld ein Angeklagter hat, umso besser sind seine Anwälte. Eine verpflichtende anwaltliche Vertretung in allen Strafverfahren könnte hier helfen. Und Scheiber ist sich sicher: Die Justiz sollte in ihrer Sprache und Kommunikation niederschwelliger und einfacher werden.

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