Österreichs Veto gegen die Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in den Schengen-Raum hat europaweit für viel Unverständnis gesorgt. Doch auch in anderen, sozial- und wirtschaftspolitischen Bereichen hat die österreichische Bundesregierung wichtige Reformvorhaben der EU blockiert, verwässert oder verzögert. Darunter ein EU-weiter Mindestlohn, Umweltschutz und bessere Arbeitsbedingungen sowie öffentliche Investitionen in Krisenzeiten. Hier ein Überblick über Österreichs EU-Politik.
„Es ist höchste Zeit, dass wir in Europa wieder für etwas sind und nicht immer gegen etwas“, meint Otmar Karas (ÖVP) zur Haltung Österreichs in der Schengen-Frage. Die steht laut ihm für ein weitreichenderes Problem: Österreichs EU-Politik ist passiver und skeptischer gegenüber europäischen Vorhaben geworden, zum Teil sogar destruktiv.
Fehlende Umsetzung: Klimaplan, sauberes Trinkwasser und Schutz für Saisonarbeiter
Die EU-Kommission hat bereits zahlreiche Verwarnungen und schließlich Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich eingeleitet. Grund dafür ist eine zu späte oder mangelhafte Umsetzung von EU-Richtlinien. Zuletzt war das beim Klima- und Energieplan der Fall. So musste jedes Land der Kommission einen Energie- und Klimaplan vorlegen, der zeigt, wie die Klimaziele bis 2030 erreicht werden können – Österreich scheiterte daran. Auch bei der Richtlinie zum Schutz von Saisonarbeitskräften ist Österreich säumig. Diese soll “Arbeitskräften aus Drittländern in der gesamten EU menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen, sowie gleiche Rechte und ausreichenden Schutz vor Ausbeutung gewährleisten.” Ein weiteres Verfahren ist anhängig, weil Österreich die Richtlinie zu qualitätsvollem Trinkwasser nur mangelhaft umgesetzt hat. Es geht dabei unter anderem um die Vermeidung von Mikroplastik und anderer Schadstoffe.
Dabei geben gerade Richtlinien den Mitgliedstaaten Spielraum zur Umsetzung von Europäischen Recht. Dieses kann so für die unterschiedlichen Verhältnisse und Systeme angepasst und möglichst effektiv ausgestaltet werden. Nur die Ziele sind verbindlich festgelegt. Bei ausbleibender oder nicht korrekter Umsetzung drohen letztlich Strafzahlungen.
Verzögerung bei transparenten Arbeitsbedingungen
Die nationale Umsetzung der EU-Richtlinie über transparente Arbeitsbedingungen soll die Qualität von Dienstzetteln in Europa deutlich anheben. Auch das hat der Nationalrat mit eineinhalbjähriger Verspätung erst Ende Februar beschlossen. In diesem Fall hatte die EU-Kommission schon ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich eingeleitet. Die „Dienstzettel“-Richtlinie sieht unter anderem vor, dass Arbeitnehmer:innen bei Dienstantritt unter anderem eine kurze Beschreibung der Tätigkeit, die Vergütung von Überstunden, die Art der Auszahlung des Lohns, die Dauer und Bedingungen der Probezeit sowie ein Hinweis auf das Kündigungsverfahren schriftlich erhalten müssen. Dadurch soll der Schutz von Arbeitnehmer:innen-Rechten gestärkt werden, insbesondere, wenn kein schriftlicher Arbeitsvertrag vorliegt. Anders als in der Richtlinie vorgesehen, fehlen in den österreichischen Gesetzesänderungen jedoch angemessene und abschreckende Sanktionen bei Nichteinhaltung. Auch werden diese nicht für bestehende Arbeitsverhältnisse gelten, was eine nicht nachvollziehbare Ungleichbehandlung von Arbeitnehmer:innen darstellt.
Österreich-Politik in EU: sparen statt investieren – auch in Krisenzeiten
Auch andere Beispiele zeigen, dass Österreichs EU-Politik zurückhaltend und oftmals blockierend ist. So war die Bundesregierung zu Beginn der Covid-Pandemie kritisch gegenüber dem Wiederaufbauinstrument „NextGenerationEU“ und einer zeitweisen Aussetzung der strengen europäischen Fiskalregeln – insbesondere des Stabilitäts- und Wachstumspakts.
Damit hat sie sich für Sparpolitik und gegen konstruktive Krisenbewältigung stark gemacht.
Da die geltenden EU-Fiskalregeln Neuverschuldung nur bedingt zulassen, können im Fall von unvorhergesehenen Ereignissen oder Krisen keine öffentliche Investitionen in zukunftsrelevante Bereichen fließen. Dazu gehören beispielsweise: Bildung, Forschung und Entwicklung, Digitalisierung, erneuerbare Energien, sozialökologische Infrastruktur (von Wohnen bis Mobilität).
Durch die Pandemie waren milliardenschwere Zuschüsse für wirtschaftliche Stabilisierung und Investitionen notwendig. Finanziert wurde das durch sogenannte Eurobonds, also eine Art von Staatsanleihen in der Europäischen Union. Meist nehmen aber nur die Staaten der Eurozone gemeinsam – also gesamtschuldnerisch – Kredite am Kapitalmarkt auf. Das löste die Diskussion um die längst überfällige Reform der Fiskalregeln aus. Trotz der Zurückhaltung der österreichischen Bundesregierung sind die Verhandlungen darüber nach vier Jahren nun in der finalen Phase. Bei aller berechtigten Kritik verspricht die Reform mehr Flexibilität für öffentliche Investitionen und eine Abkehr von einer Sparpolitik, die sich in Krisenzeiten als nicht effektiv erweist. Diese Chance darf angesichts der großen Zukunftsherausforderungen nicht verpasst werden, wie etwa Evelyn Regner (SPÖ) betont.
Österreichs EU-Politik: Gegen EU-weiten Mindestlohn und Lohntransparenz
Unfairer Wettbewerb durch Lohn- und Sozialdumping untergräbt den Zusammenhalt in der EU. Dagegen hat die Kommission eine Mindestlohnrichtlinie vorgeschlagen. Diese würde gerade Arbeitnehmer:innen in jenen Mitgliedstaaten nützen, in denen die Abdeckung durch Kollektivverträge gering ist oder gesetzliche Mindestlöhne nicht existenzsichernd sind.
Der österreichische Arbeitsminister Martin Kocher hat sich zunächst gegen diese Richtlinie ausgesprochen, denn diese würde in die Autonomie der Sozialpartnerschaft eingreifen.
Stattdessen sollte eine unverbindliche Empfehlung beschlossen werden. Schließlich enthielt er sich 2022 bei der Abstimmung über die Richtlinie – in der gleichen Sitzung des Wettbewerbsrats hat er sich aus Datenschutzbedenken im Übrigen auch bei der Abstimmung über die Lohntransparenz-Richtlinie enthalten. Das kam im Ergebnis einer Ablehnung gleich. Tatsächlich betrifft die Richtlinie Österreich aufgrund der hohen Abdeckung durch Kollektivverträge gar nicht. Gerade aus gewerkschaftlicher Sicht sind Regelungen zur Stärkung der Angemessenheit gesetzlicher Mindestlöhne ausdrücklich zu begrüßen. Diese reduzieren nämlich Lohnungleichheit und damit Lohnwettbewerb sowie Erwerbsarmut.
Lieferando, Mjam & Co: Gegen Verbesserungen bei der Plattformarbeit
Zögerlich hat sich der österreichische Arbeitsminister auch bei der Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit im Bereich von Plattformarbeit gezeigt. Rund eine halbe Million Menschen arbeiten in Österreich in diesem Bereich. EU-weit waren es 2022 28 Millionen, 2025 sollen es schon 43 Millionen sein. Es handelt sich hauptsächlich um Essenszustellungen (wie etwa Lieferando oder Mjam) und das Transportwesen. Gewerkschaften äußern schon seit Jahren erhebliche Bedenken hinsichtlich der Umgehung von Arbeits- und Sozialrecht sowie der Steuergesetze durch Plattformunternehmen. Eine europaweite Regulierung ist längst überfällig. In den Arbeitsgruppen des Rates, in denen die Positionen der Mitgliedstaaten zu Gesetzesvorhaben der Kommission erarbeitet werden, hatte Österreich viele Bedenken angemeldet – sich letztlich jedoch der allgemeinen Ausrichtung angeschlossen.
In den darauffolgenden Verhandlungen war die Bundesregierung dann wieder kritisch – insbesondere als es darum ging, Scheinselbstständigkeit zurückzudrängen.
Trotz einer politischen Grundsatzeinigung Ende 2023 scheint die Richtlinie nun nach über zwei Jahren Diskussion aufgrund des Vetos einiger Mitgliedstaaten im Rat doch noch zu scheitern. Der Entwurf sei zu „arbeitnehmer:innenfreundlich“.
ÖVP-Minister Kocher blockiert Lieferkettengesetz
Im Februar 2022 hat die EU-Kommission einen Richtlinienentwurf über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit, das „EU-Lieferkettengesetz“, vorgelegt. Damit sollen Menschenrechte, Arbeits- und Sozialstandards sowie Umweltschutz entlang globaler Wertschöpfungsketten gestärkt und Unternehmen in die Pflicht genommen werden.
Hintergrund ist, dass private Markenzeichen („Labels“) und freiwillige Verhaltenskodizes Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung nicht wirksam verhindern. Eine EU-weite Regelung von unternehmerischen Sorgfaltspflichten wurde von Gewerkschaften und NGOs daher lange und nachdrücklich eingefordert. Es wird, gerade von Gewerkschaften des globalen Südens, auf den sogenannten Brüsseler-Effekt, also die Übernahme von europäischen Standards und Rechtsnormen durch Drittstaaten, gesetzt.
Im Dezember 2023 erzielte das Europäische Parlament mit dem Rat eine Grundsatzeinigung. Arbeitsminister Kocher hat sich in der Folge jedoch enthalten. Davor hatte der deutsche Justizminister Buschmann (FDP) angekündigt, sich zu enthalten. Das Lieferkettengesetz würde zu Überregulierung führen, wie Wirtschaftsverbände einmahnten.
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Fakt ist: Österreich hatte (wie auch Deutschland) ausreichend Gelegenheit, seine Vorschläge einzubringen. Darüber hinaus hat das Arbeits- und Wirtschaftsministerium gemeinsam mit dem Justizministerium über ein Jahr einen umfangreichen Beratungsprozess in Österreich zum EU-Lieferkettengesetz durchgeführt und die Ergebnisse auf EU-Ebene eingebracht.
Deswegen ist die Ablehnung eines abgestimmten, mitausverhandelten Kompromisses demokratiepolitisch bedenklich.
Diese Vorgehensweise rund um das Gesetzesvorhaben hat wenig überraschend zu massiven koalitionsinternen Verstimmungen geführt. Justizministerin Alma Zadić hat Arbeitsminister Kocher öffentlich zur Zustimmung aufgefordert – ohne Konsequenz. Das Lieferkettengesetz ist wohl als gescheitert zu bewerten.
Ohne Kompromisse ist EU-Politik nicht möglich
Auf EU-Ebene bzw. in den Arbeitsgruppen des Rates ist es notwendig, Kompromisse zu finden. Das erweist sich aufgrund sehr unterschiedlicher politischer Positionen und Interessen der Mitgliedstaaten als an sich schon schwierig. Verhalten sich einzelne Mitgliedstaaten dabei so, dass Vorhaben ausgehöhlt und damit wirkungslos werden, oder verzögern sie diese durch Prüfvorbehalte massiv, verhindern sie europäische Gesetzgebung. Das zeigte sich nicht nur am Beispiel des Lieferkettengesetzes, sondern etwa auch beim Aus für Verbrennermotoren. Auch da gab es zwischen Rat, Parlament und Kommission ein ausverhandeltes Vorhaben, das danach im Rat keine Mehrheit fand.
Derweil wäre es gerade in Zeiten von anhaltenden Krisen und wirtschaftlicher Transformation notwendig, sich auf europäischer Ebene als verlässlicher, konstruktiver und reformorientierter Partner zu positionieren. Das gilt auch für Österreichs EU-Politik. Durch eine passive und skeptische Haltung läuft Österreich hingegen Gefahr, sich in Verhandlungen zu isolieren und so ins Abseits zu geraten. Die Ablehnung von ausverhandelten Kompromissen schädigt das Vertrauen in die EU-Gesetzgebung und stellt auch die Qualität der innerstaatlichen Regierungsarbeit infrage.
Stattdessen braucht es progressive und ambitionierte Antworten, um Europa sozial gerechter, ökologischer und demokratischer zu gestalten.
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