Überlastete PflegerInnen, gesperrte Pflege-Einrichtungen oder sogar PatientInnen, die ohne Not sediert werden, weil nichts mehr geht. Immer wieder hört man die Warnungen vor einem Pflegekollaps in Österreich. Nicht nur Pflege-Beschäftigte, Bürgermeister und Vertreter von Betreiberorganisationen läuten die Alarmglocken. Auch die Volksanwaltschaft verzeichnet eine lange Liste an Problemen, die in Einrichtungen auftauchen. Was sie alle gemein haben: Sie sehen im krassen Personalmangel die Ursache dafür, dass Pflegekräfte nicht mehr wissen, wie sie weitermachen sollen. Sie leiden – aber auch die PatientInnen.
Bernhard Achitz ist Volksanwalt und mitunter zuständig für die Kontrolle des Pflege-Sektors in Österreich. Die Volksanwaltschaft geht nicht nur Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern gegen Verwaltungsbehörden nach, sondern überwacht gewissermaßen auch die Wahrung der Menschenrechte in Österreich. So auch in den Pflege-Einrichtungen – und das Träger-unabhängig. Insgesamt sechs Kommissionen der Volksanwaltschaft besuchen unangemeldet in den ihnen zugewiesenen Gebieten Alten- und Pflegeheime, Psychiatrien, Jugend-WGs oder auch Behinderteneinrichtungen. Sie prüfen, wie es um die Wohn-, Sorge- und Arbeitsverhältnisse bestellt ist. Ob Formalbestimmungen eingehalten werden und ob es Verletzungen der Menschenwürde gibt.
Zu wenig Pflegepersonal heißt womöglich unzureichende Wundversorgung
Die Kontrollbesuche sind präventiv, doch manchmal stellen die VertreterInnen der Volksanwaltschaft bereits Mängel fest. Übertretungen melden die PrüferInnen – nicht nur den Aufsichtsbehörden wie den Ländern, sondern mitunter auch der Polizei. Im letzten Jahr haben sich laut Achitz die Folgen des Corona-Managements in den Pflege-Einrichtungen offenbart:
„Bei den Besuchen der PrüferInnen fällt mehr und mehr auf, dass qualifiziertes Personal fehlt. Das hat verschiedene Konsequenzen, aber es ist auch potenziell gefährlich. Wenn zu wenige Pflegekräfte im Nachtdienst sind und etwas passiert, dann ist vielleicht nicht genug Personal da, um einzugreifen. Oder die Wundversorgung entspricht nicht mehr den Standards, weil die Pflegekräfte schlicht nicht genug Ressourcen haben“, erklärt Achitz.
In solchen Fällen wird das Management der Einrichtung benachrichtigt, damit es die Missstände beseitigt – oder ihnen vorbeugt. Das heißt oft, vor der Wahl zu stehen: Schnell mehr Personal einstellen – oder Stockwerke (und damit Betten) schließen.
In Salzburg hat man vorsorglich ein ganzes Wohnhaus geschlossen – zu wenig Personal
So geschehen beispielsweise in Salzburg. In der Landeshauptstadt musste man ein Seniorenwohnheim schließen, weil schlicht das Personal fehlte – und man nicht mehr gewährleisten konnte, dass die BewohnerInnen versorgt werden. Für Anja Hagenauer, Sozialstadträtin der Landeshauptstadt, ist es eine „vorbeugende und notwendige Maßnahme“. Denn man will nicht riskieren, dass die Qualität in der Betreuung abnimmt. „Wir haben den Personalstand genau im Auge behalten und haben gesehen, dass sowohl Berufswechsel als auch Pensionierungen anstehen. Und wir haben gemerkt, dass wir trotz Ausschreibungen für Pflegekräfte keine entsprechenden Bewerbungen bekommen haben. Da war klar: Wenn wir nichts unternehmen, können wir ab Juni den Bedarf nicht mehr decken. Wir mussten handeln“, erklärt Hagenauer. Viele Kompetenzen liegen beim Land Salzburg – doch da mahlen die Mühlen zu langsam. Oder gar nicht.
Manches kann ein gutes Management in einer Einrichtung selbst noch ausgleichen: Dienste besser verteilen, die Gesundheit der Pflegekräfte im Auge haben, rechtzeitig Stellen ausschreiben. Aber manchmal gelingt auch das nicht.
Zu wenig diplomiertes Pflege-Personal – in ganz Östererich
Es fehlt, und zwar in ganz Österreich, vor allem das diplomierte Personal, also: Diplom-Gesundheits- und KrankenpflegerInnen. Pandemiebedingt gab es viele Ausfälle: Krankenstände, Quarantäne, aber auch schlicht Ausfälle wegen Überarbeitung – oder gar Kündigungen. „Irgendwann macht man aufgrund der Belastung nicht mehr mit“, sagt Achitz. Und neue fertig Ausgebildete? Die gehen laut Bernhard Achitz eher ins Akutspital. „Das liegt mitunter daran, dass man in Spitälern eher Erfolgserlebnisse hat. In der Altenpflege ist das seltener der Fall, da geht es ja mehr um Begleitung, nicht um Wieder-Gesundung“, erklärt der Volksanwalt.
In den letzten zwei Jahren war es zudem der administrative Zusatzaufwand in den Pflege-Einrichtungen, die die Beschäftigten dort massiv belastet haben. „Dieses ganze Besuchs-Management: Wer darf wann kommen – und unter welchen Voraussetzungen? Test- und Impfzertifikate vorab prüfen, Mails und Anrufe von Angehörigen – all das kam ja zusätzlich zur Pflege-Arbeit oben drauf“, erklärt Achitz. Er findet, all das den Pflegekräften aufzubürden, war ein Fehler, den die Regierung hätte vermeiden können. Es hätte, so Achitz, ja auch die Möglichkeit gegeben, das Bundesheer für solche Zwecke einzusetzen. Dieses hat beim logistischen Ablauf von Testungen und Impfungen mitgewirkt – man hätte es auch zur Entlastung der Pflegekräfte einsetzen können.
Überlastung des Personals während Corona wäre teilweise vermeidbar gewesen, sagt Volksanwalt Achitz
Es leiden am Ende alle, die im System hängen: Die Pflegekräfte, die überarbeitet sind und den KollegInnen-Schwund irgendwann nicht mehr ausgleichen können. Die PatientInnen und BewohnerInnen, die den Stress mitbekommen oder sogar keinen Pflegeplatz mehr finden, weil es an Einrichtungen fehlt. Und die Angehörigen, die selbst zwischen Job und Familie jonglieren und dann auch noch die Pflege ihrer Eltern oder PartnerInnen mit-übernehmen sollen.
Das kann nicht lange so weitergehen, glaubt auch Volksanwalt Achitz. Über die Vergangenheit zu jammern, findet er müßig. Und dennoch: Die Volksanwaltschaft hat schon vor der Pandemie auf den Notstand in der Pflege aufmerksam gemacht. Nur wollte damals niemand die Alarmglocken hören.
„Ein stabiles Pflegesystem mit Pflegekräften, die gut arbeiten können, das kostet nun mal Geld. Pflege, die menschrechtlichen und medizinischen Standards entspricht, kostet Geld. Offenbar wollte und will man dieses Geld einfach nicht ausgeben“, resümiert der Volksanwalt.
Kürzere Arbeitszeiten wären eine wichtige Lösung, um Pflege-Berufe attraktiver – und aushaltbarer – zu machen
Das Pflegepaket, das die Regierung unlängst vorgestellt hat, greift seiner Meinung zu kurz. Man muss die Arbeitsbedingungen im Gesamten verbessern – dann wären auch die Berufe in diesem Bereich attraktiver. Man könnte länger und gesünder arbeiten. „Bei den Arbeitszeiten ansetzen, wäre ganz wichtig“, sagt Achitz. „Mehr Geld ist gut und richtig, aber eben nur die eine Seite. Es sind die permanente Überarbeitung, der fehlende Ausgleich und die fehlende Planbarkeit, die das Arbeiten in der Pflege so schwierig machen. Ein Voest-Arbeiter weiß, wann er welche Schichtdienste hat – und er weiß Monate im Voraus, ob er an Weihnachten in diesem Jahr mit der Familie feiern kann. Eine Pflegerin weiß oft nicht mal, welche Schichten sie in der nächsten Woche übernehmen muss. Überlastung ohne Ausgleich – und keine Planbarkeit, das vermindert einfach ganz krass die Lebensqualität aller, die in der Pflege arbeiten“, fasst Achitz zusammen. Deswegen sei es auch sinnvoll, über eine Verkürzung der Arbeitszeit zu diskutieren und sie in Angriff zu nehmen. „Das würde einiges an Druck rausnehmen“, ist der Volksanwalt überzeugt.
Tätigkeitsbericht der Volksanwaltschaft für 2021 |
Im Zuge der präventiven Menschenrechtskontrolle besuchten die Kommissionen der Volksanwaltschaft im Vorjahr 541 Mal Einrichtungen, in denen Menschen in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt werden. Außerdem wurden 29 Polizeieinsätze begleitet und 13 Round-Table-Gespräche mit Einrichtungen und übergeordneten Dienststellen geführt.
Als übergreifendes Problem in Krankenhäusern beziehungsweise Psychiatrien, Alters- und Pflegeheimen, bei den Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, den Anhalte-Zentren und Gefängnissen stellte sich dabei der akute Personalmangel heraus. Menschenrechtsverletzungen aufgrund überlasteter Betreuungspersonen könnten durch eine rasche Verbesserung der Personalausstattung in den Einrichtungen vermieden werden, erklärt die Volksanwaltschaft in ihrem Tätigkeitsbericht für 2021. |