Eine Million Menschen sind in Frankreich auf der Straße, um drastische Kürzungen bei den Pensionen zu verhindern. Das französische Rentensystem ist für viele Franzosen das Symbol für soziale Errungenschaften. Präsident Emmanuel Macron will die Pensionen für viele kürzen – vor allem Frauen sind betroffen. Die Renten-Proteste sind die größten Proteste gegen Macron – selbst die Gelbwesten brachten nicht so viele Menschen auf die Straße.
Die Universitäten sind blockiert, der Verkehr stillgelegt, öffentlich-rechtliche Sender spielen nur noch Playlisten statt Nachrichten – das gehört zum Standardrepertoire französischer Streiks. Dieses Mal war sogar der Eiffelturm außer Betrieb. Frankreich erlebt einen Generalstreik wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Von den Pariser Metrolinien fuhren nur jene zwei, die automatisch betrieben werden.
Der Fernverkehr lag fast komplett still. Die Hälfte der Lehrkräfte an Grundschulen und Gymnasien legte die Arbeit nieder, viele Schulen blieben geschlossen. Krankenhäuser, Energieunternehmen, öffentliche Behörden – alles, was ein Land zum Funktionieren braucht, lag am Donnerstag still oder funktionierte nur sehr eingeschränkt.
Eine Million auf der Straße für Macron Rücktritt
Die Gewerkschaft CGT spricht von historischen Zahlen: 1,5 Millionen Menschen sollen im ganzen Land auf der Straße gewesen sein. Andere Zahlenangaben sind nüchterner – das Innenminsterium spricht von 800.000 Demonstranten und Demonstrantinnen. Am Rande der friedlichen Demonstrationszüge gab es auch Vandalismus und Auseinandersetzungen. „Macron, démission“, lautet auch dieses Mal der immer wiederkehrende Slogan: Die Forderung, der Präsident solle zurücktreten.
Was war da los? Die Wut auf Macron ist nicht neu – seit über einem Jahr demonstrieren die Gelbwesten gegen seine Politik. Macron macht das Leben der Mittelschicht und Geringverdiener immer prekärer macht. Dieses Mal ging es um die Altersrente.
Kürzungen bei der Rente trifft vor allem Frauen
Wer eine Zeit lang nicht arbeitet, dem wird die „fehlende“ Arbeitszeit von der Rente abgezogen. Ein paar Jahre Kinderbetreuung? Arbeitslosigkeit? All das soll vom Rentensystem bestraft werden, die Rente wird kleiner. In Deutschland ist das längst Realität, in Österreich werden dagegen Zeiten der Arbeitslosigkeit und Kindererziehung auf die Pension angerechnet.
Macron will ein Punktesystem einführen: Wer am wenigsten sammelt, bekommt auch am wenigsten. Und weil meistens Frauen die Kinder- und Altenpflege übernehmen oder wegen Schwangerschaft die Berufstätigkeit unterbrechen, werden in diesem System vor allem Frauen von Altersarmut betroffen sein.
Pension kann an Wert verlieren, wenn weniger Beschäftigte einzahlen
Knackpunkt des neuen Rentensystems ist außerdem, dass ein Umlageverfahren eingeführt werden soll: Renten können nur in den Summen ausgezahlt werden, die Arbeitende aktuell einzahlen. 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollen in die Renten fließen. Das heißt: Die angesammelten Punkte können an Wert verlieren, wenn das Wachstum sinkt und weniger eingezahlt wird. Ein sicherer Mindestbetrag ist nicht vorgesehen.
Der Haken außerdem: Während die Menge alter Menschen wächst, sinkt die Zahl der einzahlenden Arbeitnehmer. Eine sinkende Menge Geld muss also für eine wachsende Zahl an Rentnern und Rentnerinnen reichen.
Macron will auch Pensionsantritt erhöhen
Außerdem will Macron das offizielle Pensionsalter von 62 auf 64 Jahre erhöhen. Das klingt für viele Nachbarländer erst einmal nach Luxus. Doch tatsächlich herrscht in vielen dieser europäischen Länder eine hohe Altersarmut: Die Quote in Schweden und Deutschland etwa lag 2018 bei über 16 Prozent,Tendenz steigend. Das heißt: Jeder 5. alte Mensch ist arm.
Was anderswo mit ein bisschen Gemurre und fatalen Folgen durchging, wollen die Leute in Frankreich sich nicht gefallen lassen. Für viele Französinnen und Franzosen ist das Thema Rente unanstastbar – es steht stellvertretend für die sozialen Errungenschaften im Land.
Ausnahmen für Polizisten-Rente vorgesehen
Wenige Tage vor dem Streik hatten auch einige hundert Polizeikräfte ihre Helme vor einer Kaserne niedergelegt. Sie protestieren auf ihre Art gegen die Rentenreform. Der Innenminister Christophe Castaner beeilte sich daraufhin, den Polizeigewerkschaften für ihre Berufsgruppe Ausnahmen zuzusichern. Für sie soll es etwa die Möglichkeit der Frührente weiter geben. Im Gegensatz zu Bahnbediensteten und Lehrerinnen und Lehrern braucht der Minister sie offenbar dringend.
Im Streik befand sich die Polizei in der Tat nicht. Die Journalisten Gaspard Glanz und Taha Bouafs wurden jeweils mehrfach von polizeilichen Gummigeschossen getroffen, am Knie und sogar im Geschlechtsbereich. Und das war nicht zum ersten Mal. Glanz gab an, dass sein Handy und seine Kamera durch die Schüsse kaputt gegangen sind. Bemerkenswert ist: Die beiden Journalisten haben besonders viel über Polizeigewalt berichtet und werden seither von den Einsatzkräften oft schikaniert.
Polizeigewalt gegen Journalisten
Verletzt wurde auch der türkischen Journalist Mustafa Yalgit, dem mit einem Gummigeschoss ins Gesicht geschossen wurde. Yalgit wurde mit einer Augenverletzung ins Krankenhaus eingeliefert, heißt es auf der Webseite seines Arbeitgebers, der staatlichen Nachrichtenagentur Andalou.
Kurz vorher hatten sich mehrere Journalistinnen und Journalisten in Paris zu eine Streik-Block zusammengetan. Sie hielten ihre Kameras und andere Arbeitsutensilien in die Luft: Streik, um gegen die exzessive Polizeigewalt zu demonstrieren, die seit einem Jahr drastisch zugenommen hat.
Feuerwehr unterstützt Proteste
Mit dabei war auch die Feuerwehr, die seit Oktober immer stärker an der Seite der Gelbwesten in Erscheinung getreten war. Auch dieses Mal kamen die Feuerwehrleute zum Teil in Montur und lieferten sich Gefechte mit der Polizei. Namhafte Journalistinnen wie etwa Nicole Ferroni hatten den Streik öffentlich unterstützt und daran teilgenommen. Der Schauspieler Vincent Lindon machte sogar einen Video-Aufruf.
Auch zahlreiche Schülerinnen, Schüler und Studierende sind seit Donnerstag auf der Straße. Dazu kommen Gelbwesten und Umweltaktivisten. Selten hat es einen so breiten Konsens für den Protest gegeben.Und viele sind entschlossen: Es geht noch weiter. Manche haben den Streik seit Donnerstag nicht unterbrochen – etwa Teile von Bus- und Bahnunternemen und Schulen. Andere Gewerkschaften und Verbände riefen den nächsten flächendeckenden Generalstreik für Dienstag den 10. Dezember aus. Die Regierung zeigt sich bisher kompromisslos – die Streikenden auf ihre Weise auch.
„Die Reform kann nicht umgesetzt werden ohne die tausenden Menschen, die gestreikt haben und auf der Straße waren“, sagte der Gewerkschaftsvorsitzende Philippe Martinez dem Fernsehsender LCI.
Auch der Tenor auf der Straße lautet: Streiken, bis Macron von seiner Reform abrückt.