Mattea Meyer und Cédric Wermuth sind seit dem 17. Oktober 2020 die Co-Präsidenten der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Die beiden treten dafür ein, dass der öffentlich-rechtliche Sektor massiv ausgebaut wird. Bezahlen sollen das die Reichen als bisherige Profiteure des Systems. Ein Interview über die zukünftige Rolle der Sozialdemokratie im globalen Kapitalismus und warum verlorene Abstimmungen langfristig zum Sieg führen.
Die Schweizer Sozialdemokraten haben die beiden Anfang 30-jährigen im Oktober mit grosser Mehrheit als Vorsitzende ihrer Partei gewählt: Mattea Meyer (*1987) und Cédric Wermuth (*1986). Beim Zoom-Interview mit Kontrast erklären sie, was es für sie heißt, im Jahr 2020 Vorsitzende der Schweizer Sozialdemokraten zu sein. Wichtig ist für sie “an den Kernanliegen der Verteilungsgerechtigkeit, der Infragestellung von Eigentumsverhältnissen und dem Sozialstaates” festzuhalten. Meyer und Wermuth antworten konzentriert, überlegen immer wieder und ergänzen sich gegenseitig – sie scheinen öfter miteiannder zu diskutieren.
Aktuell engagiert sich die Schweizer SP in der überparteilichen “Konzernverantwortungsinitiative”. Schweizer Unternehmen sollen sich auch im Ausland an Menschenrechts- und Umweltstandards halten. Tun sie das nicht, sollen sie sich vor einem Schweizer Gericht verantworten müssen. Die Abstimmung erfolgt kommenden Sonntag und könnte gewonnen werden.
Für die Schweiz selbst wünschen sich Meyer und Wermuth den massiven Ausbau der öffentlichen Dienste. Der öffentlich-rechtliche Sektor soll gestärkt werden, weg von der Sicherung des Existenzminimums – er soll so gut wie alles umfassen, was für das Leben notwenidg ist.
Wir dürfen uns nicht mehr fragen: “Was darf der Staat in einer freien Marktwirtschaft noch tun?”, sondern “Was können wir uns noch erlauben an Ökonomie, die nicht der Gemeinwohlökonomie dient?”
Finanziert kann das locker werden: Die 300 reichsten Schweizer haben im vorletzten Jahr ihr Vermögen um 60 Mrd. Franken (56 Mrd. Euro) gesteigert, das ist nahezu gleichviel Geld, wie die Schweiz in einem Jahr für seine 8,5 Millionen Einwohner ausgibt.
“Wir müssen das Geld dort holen, wo es ist. Für das Gemeinwohl sollen die bezahlen, die in den letzten Jahren von Steuerprivilegien profitiert haben. In den letzten Jahren wurde Kapital steuerlich entlastet und Löhne und Renten stärker belastet. Das muss umkehren. Das Geld holen wir uns mit Gewinnsteuern, Vermögenssteuern, Steuern auf hohe Erbschaften. Warum soll das ein Tabu sein?”
Und wir erfahren, dass in der Schweiz die Generika-Medikamente doppelt so teuer sind wie im Ausland, weil diese in der Schweiz mangels Profitabilität nicht erzeugt werden. Auch hier soll der Staat eingreifen – sogar als Produzent.
Außerdem erklären Meyer und Wermuth, warum Petitionen und direktdemokratischen Abstimmungen wichtig sind, auch wenn man sie 10 Mal verliert.
Hallo Mattea Meyer, hallo Cédric Wermuth, ihr habt vor Kurzem die Führung der Schweizer SP übernommen, wie geht es der Partei in der Schweiz?
Mattea Meyer: Wir hatten im 20. Jahrhundert eine Zeit, in der die Sozialdemokratie die gestaltende Kraft war. Sie hat die soziale Existenzsicherung für die Menschen ermöglicht, mit ihrem Einsatz das Frauenstimmrecht erreicht, mit Engagement für den Umweltschutz und gegen Atomkraft gekämpft. Viele dieser erfolgreichen Kämpfe und Errungenschaften sind heute eine Selbstverständlichkeit.
In den 90ern erfolgte dann der neoliberale Siegeszug des Kapitals, wo die Sozialdemokratie nur mit Abwehrkämpfen beschäftigt war. Wir konnten Schlimmeres verhindern, aber wir konnten keine positive Politik mehr entwickeln. Und wir hatten auch keine politischen Mehrheiten. In den letzten Jahren wurde das wieder besser. Wir hatten letztes Jahr die Klimastreik-Bewegung, im Sommer 2019 den Frauenstreik mit über 500.000 Menschen auf der Straße oder die #BlackLivesMatter Bewegung.
Wie ist es linke SP-Vorsitzende in einem Land zu sein, in dem einer der wichtigsten Finanz- und Handelsplätze der Welt zuhause ist?
Cédric Wermuth: Die Schweiz repräsentiert für viele Menschen die imperiale Lebensweise, das Herz des Finanzkapitalismus, das Groß-Monaco Europas. Dafür gibt es wenig Bewusstsein in der breiten Schweizer Öffentlichkeit. Das hat damit zu tun, dass es lange ein Tabu war, das anzusprechen. Dinge wie der Schutz des Bankgeheimnisses, des Steuergeheimnisses, der erfolgreiche Schweizer Sonderweg – das war schon immer konstituierend für das Land.
Erst als die ehemals staatseigene Fluggesellschaft Swissair unterging und als es dann 2009 zur Bankenkrise kam, begann das Land nach einer neuen Identität zu suchen. Bis dahin war etwa die Kritik an den Großbanken sowas wie Landesverrat. Die Schweizer SP hat aber grundsätzlich eine andere Rolle als viele Schwesterparteien gespielt. Wir waren in den letzten 30, 40 Jahren immer eine der am weitesten links stehenden Sozialdemokratien Europas. Sie hat nie ihre Kernanliegen aufgegeben. Sie stellte immer die Eigentumsverhältnisse infrage und kämpfte für Verteilungsgerechtigkeit und den Sozialstaat.
Wobei die Schweizer SP auch nicht auf der Gewerkschaft als einem starken Partner im Staat aufbauen konnte wie die SPÖ unter Kreisky und danach. Wir starten also auf einem ganz anderen Niveau. Wir haben bei uns etwa gerade erst 2 Wochen Vaterschaftsurlaub eingeführt und halten das für unglaublich modern. Das ist alles, was wir für Väter an Elternzeit haben.
Direkte Demokratie und Konzernverantwortungsinitiative
Eine Besonderheit der Schweizer Politik sind ja die direktdemokratischen Elemente und Volksabstimmungen.
Mattea Meyer: Es geht bei diesen Abstimmungen nicht nur um das Gewinnen eines Referendums, sondern auch um Bewusstseinsbildung. Wir haben vor über 10 Jahren mit der 1:12 Initiative die Abzocker-Löhne und die Boni in Millionenhöhe kritisiert und das Thema enttabuisiert. Das heißt, dass der höchste Lohn in einem Unternehmen maximal das 12-fache sein darf vom tiefsten Lohn. Die Abstimmung darüber ging zwar verloren (65 Prozent der Schweizer votierten gegen die Initiative), aber wir konnten den Diskurs prägen: Was sind anständige Löhne, was sind unanständige Löhne, vor allem in der Finanzbranche. Moralisch waren wir die Gewinner – wir haben die Debatte geprägt, bis heute. Das gilt auch für viele andere Themen.
Aktuell engagieren wir uns für die Konzernverantwortungsinitiative. Da geht es darum, dass sich Schweizer Unternehmen im Ausland auch an Menschenrechts- und Umweltstandards halten müssen. Und wenn sie das nicht tun, sollen sie sich vor Gericht verantworten müssen. Das soll auch zeigen, dass diese imperiale Politik eigentlich unanständig ist, dass wir als Schweiz auch global Verantwortung tragen müssen.
Im öffentlichen Diskurs gibt es doch eine spürbare Verschiebung nach links. Das ist alles keine Selbstverständlichkeit, das muss alles gegen sehr mächtige Blöcke – von der bürgerlichen Rechten und von der finanzstarken Seite in der Politik – erkämpft werden.
Cédric Wermuth: Die Konzernverantwortungsinitiative will eine verbindliche Sorgfaltspflichtprüfung der Unternehmen hinsichtlich Einhaltung der Kernarbeitsnormen der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) und von Umweltverbindlichkeiten. Und es soll international möglich sein, bei Schadensfällen vor einem Schweizer Gericht Klage zu erheben, sofern ein Zusammenhang mit der Aktivität eines Schweizer Unternehmens nachgewiesen werden kann.
Dass diese Klagen in der Schweiz eingereicht werden können, ist so wichtig, weil wir hier im Kern dieses globalen Kapitalismus stecken. Zwei Drittel des Goldes auf dieser Welt wird in der Schweiz gehandelt, Glencore (das weltweit größte Unternehmen für Rohstoffhandel) hat seinen Sitz in der Schweiz, unsere Banken finanzieren einen Großteil des globalen Rohstoffhandels. Das könnte auch Signalwirkung haben für andere europäische Staaten.
Was passiert, wenn ihr diese Volksabstimmung gewinnt?
Würde die Abstimmung über die Konzernverantwortungs-Initiative gewonnen, kommt es erst zu einem langwierigen politischen Prozess bis zur Gesetzwerdung. Trotzdem trifft die Kampagne auch so schon den Kern des Selbstverständnisses des Bürgerblocks und versetzt ihn in Aufruhr. Deshalb macht die Gegenseite Panik in der Öffentlichkeit und behauptet, dass vor allem die KMUs betroffen wären und dass dies überhaupt den wirtschaftlichen Untergang bedeuten würde, was natürlich beides nicht stimmt.
Die Chance auf einen Sieg ist nicht sicher, aber realistisch. Wir haben es geschafft ein Anliegen von links, in breiten Bevölkerungskreisen und sogar in den Kirchen zu popularisieren. Dabei ist zu bedenken, dass viele Abstimmungserfolge wie etwa das Frauenstimmrecht oder der UNO-Beitritt zehn mal und öfter abgestimmt wurden über die Jahre hinweg. Wichtig ist, dass der Diskurs in Gang gesetzt wird und langfristig Mehrheiten gefunden werden.
Mattea Meyer: Positiv stimmt mich auch, dass auch viele bürgerliche Politiker mitmachen, allen voran der ehemalige FDP-Politiker Dick Marty, aber auch Persönlichkeiten aus den verschiedenen Kirchen und NGOs. Und vor allem habe ich die Hoffnung, dass diese immer gleichen Angst-Parolen langsam nicht mehr ziehen. Also dass alles den KMUs schade, dass Arbeitsplätze verloren gingen. Ich kenne diese Argumente, seit ich politisch aktiv bin.
Wir hatten vor drei Jahren ein zentrales Referendum zur Verhinderung einer massiven Senkung für Unternehmenssteuern und dem Öffnen neuer Steuerschlupflöcher. Das Referendum war nur von der SP und die Gewerkschaften getragen. Wir gewannen das Referendum mit 62 %. Obwohl die Gegenseite behauptete, die geplanten Maßnahmen würden den KMUs und dem Arbeitsmarkt helfen. Das war ein Wendepunkt, wo diese Argumentationslinie der Rechten gar nicht mehr gewirkt hat.
Von der Partei zur Bewegung
Was sind eure politischen Erzählungen? Wie vermittelt ihr eure Botschaften? Also etwa, dass die Konzerne so handeln sollen, dass sie den Menschen nicht schaden, sondern nützen.
Cédric Wermuth: Es gibt vier Bereiche, in denen wir glauben, dass die Partei aktiv tätig sein soll.
1.) in der konkreten Verbesserung der ökonomischen Lebensrealitäten. Wir schaffen höhere Löhne, bessere Renten, Absicherung von Care-Arbeit, öffentliche Kinderbetreuung. Letzter gibt es in der Schweiz kaum.
2.) die Herausforderung der Klimakatastrophe. Da können nicht die Menschen verantwortlich gemacht werden, die mit einem Plastiksack nach Hause gehen, sondern etwa unser Finanzplatz, der von der Zerstörung des Planeten substantiell profitiert hat. Die sollen bezahlen. Und wir verbieten Investitionen in fossile Energien und finanzieren die Energiewende mit der Besteuerung von hohen Einkommen, Vermögen und Gewinnen.
3.) wir müssen den Backlash der radikalen Rechten in Bezug auf die Menschenrechte angehen. d.h. dass wir offensive Positionen formulieren in Fragen der gesellschaftlichen Freiheiten, aber auch der Frauenfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit und Asylpolitik.
4.) Wir müssen über Digitalisierung, Finanzkrise, Migrationskrise diskutieren und zeigen, dass das Modell des neoliberalen Kapitalismus auf diese Weise nicht zukunftsträchtig ist.
Insgesamt müssen wir ein Angebot machen, das von der Verbesserung der Rente über die Erhöhung der Löhne zur Gleichstellung homosexueller Paare bis hin zur Konzernverantwortungsinitiative eine Idee und Klammer gibt. Dazu braucht es im positiven Sinn eine Re-Ideologisierung der Politik. So ein ideelles Gesamtkonzept hat auch der europäischen Sozialdemokratie stark gefehlt in den letzten Jahren.
Dazu stellt sich die Frage, wie wir aus den vertrauten Parteimodellen rauskommen hin zu einem stärkeren Bewegungscharakter. Da motivieren uns Ideen, die andernorts probiert wurden, etwa bei dem American Justice Democrats oder bei den Leuten rund um Corbyn, die doch eine Öffnung der Partei erreicht haben. Als Klammer sehen wir hier “Das gute Leben hier und jetzt” bzw. arbeiten wir auch mit der Übersetzung “Menschen vor Profite”.
Sozialdemokratie und Abgrenzung zur politischen Elite
Mattea Meyer: Wir müssen die Sozialdemokratie vermehrt auch zur Heimat für Menschen machen, die sich aktuell nur für den Klimastreik engagieren oder nur beim Frauenstreik dabei sind, ihnen eine Basis geben, wo die Kämpfe für ein würdevolles Leben verbunden werden. Das geschieht logischerweise in Abgrenzung zur politischen Elite, zu den bürgerlichen Parteien, die eng verstrickt sind mit der finanzwirtschaftlichen Elite in der Schweiz.
Wir haben hier nahezu kein Lobbygesetz, das diesen Namen verdient. Die größten Lobbyisten sitzen bei uns in den Parlamenten und parallel dazu noch in den Verwaltungsräten der Pharmakonzerne und Krankenversicherungsanstalten. Das verhindert den politischen Fortschritt in ganz wesentlichen Lebensbereichen. Das aufzuzeigen ist auch eine zentrale Rolle sozialdemokratischer Politik hier in der Schweiz.
“Service Public” – Die Revolution des öffentlichen Sektors
Ihr sprecht auch von einer Service-Public-Revolution und erklärt als Ziele eine Care-Gesellschaft …
Cédric Wermuth: Wir wollen die Bedeutung der Kapitalakkumulation für die Gesellschaft zurückdrängen und die Bedürfnisse der Menschen zuerst setzen. Das Konzept des “Service public” ist es, den Anteil der gemeinwohlnutzenorientierten Ökonomie stärker zu machen als die privatwirtschaftlich organisierte Ökonomie.
Wir dürfen uns nicht mehr fragen: “Was darf der Staat in einer freien Marktwirtschaft noch tun?”, sondern “Was können wir uns noch erlauben an Ökonomie, die nicht der Gemeinwohlökonomie dient?”
Der öffentliche Sektor, der Service Public ist grundsätzlich positiv angesehen und aktuell tritt dies auch in der Bedeutung des Gesundheitssektors nochmals deutlicher hervor.
Die öffentliche Hand, die Gemeinnutzorientiertung soll nicht nur das Existenzminimum abdecken, sondern soll weite Bereiche der Notwendigkeiten unseres Lebens organisieren.
Das knüpft auch stark an die Lebensrealitäten der Menschen an. Früher sprachen wir etwa von der Demokratisierung der Wirtschaft, aber das war oft ein sehr abstraktes Konzept für die große Mehrheit der Menschen. Fragen wie Hilfe bei der Pflege oder öffentliche Organisation der Kinderbetreuung ist lebensnäher, realitätsnäher.
Der Ausbau der öffentlichen Dienste könnte ein Konzept sein. So versuchen wir antikapitalistische, ökologische, feministische, antirassistische Anliegen zusammenzubringen.
Mattea Meyer: Das ist auch Teil der Antwort auf die Fragen, wie wir den Menschen erklären können, dass sich ihr Leben verbessert, wenn sie sozialdemokratisch wählen. Die Menschen sollen sich darauf verlassen können, dass es verlässliche starke staatliche Leistungen gibt. In der Gesundheitsversorgung, in der Schulbildung, in der wirtschaftlichen Existenzsicherung etwa in dieser schwierigen Zeit jetzt.
Deshalb gewinnen wir in letzter Zeit auch immer mehr Abstimmungen für den Ausbau des gemeinnützigen Wohnbaus, der in der Schweiz mit Ausnahmen sehr marginal ist. Mit solchen konkreten Themen und Projekten können wir politisch erfolgreich und glaubwürdig sein. Auch im Gegensatz zur Politik der Bürgerlichen, die die Privilegierten noch mehr privilegieren will.
Das Geld holen, wo es ist
Wie beantwortet ihr die Frage nach der Finanzierbarkeit von Gemeinwohl-Politik?
Mattea Meyer: Diese Frage hat sich angesichts der Corona-Krise und den nötigen Milliarden-Investitionen überholt.
Die Frage war ja nie, ob man sich Kinderbetreuung oder Gesundheitsversorgung leisten kann, sondern wer welchen Anteil daran übernimmt.
In den letzten Jahren gab es hier die Tendenz, dass immer weniger über Steuern finanziert wird, sondern immer mehr privat. Das muss sich wieder ändern in Richtung solidarischer Finanzierung von Leistungen und Gütern, die wir alle brauchen.
Cédric Wermuth: Die Frage, woher wir das Geld holen, ist natürlich eine Aufgabe der gesamten europäischen Linken. Klar ist aber:
Wir müssen das Geld dort holen, wo es ist. Für das Gemeinwohl sollen die bezahlen, die in den letzten Jahren von Steuerprivilegien profitiert haben. In den letzten Jahren wurde Kapital steuerlich entlastet und Löhne und Renten stärker belastet. Das muss umkehren. Das Geld holen wir uns mit Gewinnsteuern, Vermögenssteuern, Steuern auf hohe Erbschaften. Warum soll das ein Tabu sein?
Die Frage, wie wir uns als Gesellschaft organisieren, ist eine politische Entscheidung. Es geht bei der Verwaltung eines Staates nicht um Buchhaltung, sondern um die Frage, wie wir unsere Gesellschaft organisieren. Diesen Anspruch muss Sozialdemokratie wieder haben. Sonst verliert sie in der technokratischen Auseinandersetzung.
Mattea Meyer: Die 300 reichsten Schweizer konnten im vorletzten Jahr ihr Vermögen um 60 Mrd. Franken (56 Mrd. Euro) steigern, das ist nahezu gleichviel Geld, wie der Staat in einem Jahr für seine 8,5 Millionen Einwohner ausgibt. Das sehen die Menschen doch. Auch wenn die Bürgerlichen aufschreien und vor Sozialismus warnen, wenn wir von einer Milliardärsabgabe von zwei Prozent oder eine Krisengewinnsteuer etwa für die Pharmabranche oder die Immobilienbranche sprechen. In Wahrheit hat sich der Diskurs aber längst in unsere Richtung verschoben, das wollen viele Konservative nur nicht wahrhaben.
Die Pharma-Branche muss Teil des Service Public werden
Was sagt ihr zum Thema Corona, Pharma-Industrie und Profitlogik?
Mattea Meyer: Unser Grundsatz ist es, dass mit der Gesundheit der Menschen kein Profit gemacht werden darf. Deshalb muss die Pharmabranche Teil des Service Public werden. Die Grundlagenforschung wird von der öffentlichen Hand finanziert und wenns ums große Geld geht, kassieren die privaten Konzerne ab.
Auch die Frage, in welchen Bereichen, wohin und wonach wie intensiv geforscht und entwickelt wird, das sollten nicht private profitorientierte Firmen entscheiden, sondern muss in einem demokratisch legitimierten Prozess entschieden werden.
Cédric Wermuth: Die Schweiz hat 1898 entschieden, dass das Chaos der Privatbahnen nicht mehr erträglich war, entschieden die nationale Eisenbahn installiert und die Privatbahnen enteignet. Heut beneidet man uns in aller Welt um diesen öffentlich-rechtlichen Betrieb. Es war wahrscheinlich eine der intelligentesten Infrastruktur-Entscheidungen, den das Land in seiner Geschichte getroffen hat. Die Schweizer Bahn ist ein hervorragender Arbeitgeber und eine der pünktlichsten Eisenbahnunternehmen.
Warum sollte das bei der Pharma-Industrie nicht funktionieren? Die Pharma-Industrie und ihre Lobbyisten leisten natürlich enormen Widerstand. Beispiel Generika-Medikamente. Die sind in der Schweiz viel zu teuer.
Bei Generika sind die Patente abgelaufen, aber die Produktion von Generika wirft für die Pharma-Konzerne zu wenig Geld ab. Da könnten wir als Gesellschaft eingreifen und diese Medikamente selbst produzieren, noch ohne Firmen zu enteignen.
Als nächsten Schritt könnten wir diese Medikamente aus einer sozialdemokratischen Perspektive auch zum Selbstkostenpreis an Länder liefern, die sich diese Medikamente sonst nicht leisten können.
Dies auch deshalb, weil wir glauben, dass wir als Schweiz oder als Europa auch eine hohe Verantwortung tragen für diesen globalen Kapitalismus.
Mattea Meyer: Dabei muss man wissen, dass in der Schweiz der Anteil der Generika am Medikamentenverbrauch sehr gering ist und die Preise sind rund doppelt so hoch wie im Ausland.
Was ist DIE Aufgabe der Sozialdemokratie weltweit?
Mattea Meyer: Zu sagen, was wirklich ist und das Richtige tun. Wir dürfen politisch Macht nicht als Ziel sehen, sondern als Mittel zum Zweck etwas erreichen zu können.
Ein Problem sozialdemokratischer Politik ist immer, dass sich viele Sozialdemokratien, wenn sie an der Macht sind, zu sehr an diese Macht klammern, mit Konzernen kooperieren und zu sehr vergessen, wofür sie gewählt werden.
Nämlich dafür, dass wir die Lebensumstände der Menschen so verbessern, dass alle ein würdevolles Leben führen können. Dazu gehört auch die Klimapolitik wesentlich dazu. Wir dürfen uns nicht mit denen verstricken, die schon an der Macht sind, die Macht haben. Da gibt es für die Sozialdemokratie noch Potential nach oben.
Cédric Wermuth: Das internationale Kapital und ihre politischen Vertreter haben sich international bereits organisiert – die Linke nicht einmal in Europa.
Die Linke in Europa ist sogar daran gescheitert, in der letzten Wirtschaftskrise etwa eine Griechenland-Solidarität aufzubauen. Das halte ich historisch für das größte Versagen der letzten 20 Jahre. Wir brauchen eine neue Internationale, die ein globales Projekt hat, die eine solidarische, sozialistische Internationalisierung zum Ziel hat.
Aktuell schaffen wir es sogar, die junge Generation der amerikanischen Demokraten mit in die globale politische Verantwortung zu nehmen. Das ist eine historische Ausnahmesituation, die auch Hoffnung gibt. Mit dem Klimastreik sehen wir eine große globale Bewegung oder auch der Womens March, wo wir starke Versuche der Organisierung gesehen haben. Das haben wir alles bereits und muss nicht mehr erfunden werden.
Mattea Meyer: Wir müssen uns aus den Sachzwängen befreien, dürfen nicht akzeptieren, dass es gottgegeben oder naturgegeben ist, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.
Wir dürfen nicht klein-klein etwas ein bisschen verbessern und Suppen verteilen. Wir müssen überlegen, wie alle an die Ressourcen kommen, sich selbst etwas zu kochen.
Wir müssen zeigen, dass wir Menschen es sind, die die Welt in Zukunft verändern können. Alle globalen Kämpfe der letzten Jahre haben gezeigt, dass es immer mehr Menschen gibt, die nicht akzeptieren wollen, dass sie weniger Freiheiten haben oder weniger Recht. Sie stehen auf und wollen für sich, für ihre Umgebung, für ihre Nächsten eine bessere Zukunft erkämpfen.
Das macht uns sehr hoffnungsvoll.