“Viele Beschäftigte in systemrelevanten Berufen in Österreich sind total überarbeitet, ihre Arbeitsbedingungen haben sich in den letzten beiden Jahren verschlechtert”, sagt Daniel Schönherr, Arbeitsmarktforscher bei SORA. Gemeinsam mit seiner Kollegin Martina Zandonella hat er zu Beginn der Corona-Krise die Arbeitsbedingungen und das Berufsprestige in diesen Berufen untersucht. Das Ergebnis: Die Beschäftigten sind am Limit, verdienen zu wenig und haben nicht das Gefühl, ihren Job bis zur Pension ausüben zu können.
Die meisten systemrelevanten Berufe wie die Pflege, die Behindertenbetreuung, die öffentliche Sicherheit, das Transportwesen, der Reinigungssektor oder der Lebensmittelhandel gehen mit körperlichen und psychosozialen Belastungen einher. Die Arbeitsverträge sind Teilzeit bis prekär, man muss flexibel sein – bekommt im Gegenzug aber eine geringere soziale Absicherung. “Bei einem Einstiegsgehalt von 1.500 Euro brutto für Kassierer/-innen oder 1.850 Euro für Pflegeassistenten/-innen kann kaum davon die Rede sein, dass die hohen Belastungen und Gesundheitsrisiken in den systemrelevanten Berufen durch ein adäquates Einkommen abgegolten werden”, heißt es in der Studie.
Doch den Beschäftigten geht es nicht alleine um höhere Löhne, wie Schönherr im Interview betont. Sie wollen bessere Arbeitsbedingungen, weniger Zeitdruck und mehr Personal. Es sind die Voraussetzungen, um ihre Arbeit für uns alle besser machen können. Die hohe Arbeitsbelastung derzeit führt dazu, dass viele Beschäftigte nicht glauben, ihren Job bis zur Pension ausüben zu können.
Bei den Beschäftigten über 45 Jahren können sich 62% in der Pflege, 66% der Reinigungskräfte und 73% in der Behindertenbetreuung kaum vorstellen, angesichts ihres Gesundheitszustand bis zur Pension durcharbeiten zu können.
Von der anfänglichen Zuversicht, dass sich die Arbeitsbedingungen in diese Berufen durch ihre Leistungen in der Pandemie verbessern werden, ist nicht viel geblieben, sagt Schönherr. Viele Frauen können nach wie vor nicht von ihrem Einkommen in einem “systemrelevanten Beruf” leben.
INTERVIEW: Es wurde in letzten zwei Jahren schlechter statt besser
Die Bedeutung der “systemrelevanten Berufe” hat öffentliche Aufmerksamkeit bekommen während der Pandemie, von Aufwertung und mehr Anerkennung war die Rede. Hat sich in diesen Berufen nach zwei Jahren Corona etwas verbessert?
Schönherr: Nein, von dem Klatschen und der Solidarität, die es ganz am Anfang des ersten Lockdowns gab, ist nicht viel übrig geblieben. Die Beschäftigten im Einzelhandel oder in der Pflege haben die letzten beiden Jahre mit niedrigem Lohn und unter hoher Belastung weitergearbeitet – dazu kommen die Gesundheitsrisiken, weil niemand von ihnen im Homeoffice arbeiten konnte. Die Arbeitsbedingungen haben sich in vielen Fällen sogar verschlechtert: Das reicht von der Aggression gegen Beschäftigte im Einzelhandel, die das Tragen der Masken kontrollieren mussten, bis zu den Angriffen auf die Pflegekräfte in Krankenhäusern. Dazu kommen viele Krankenstände und Ausfälle von KollegInnen, die durch Überstunden und kurzfristiges Einspringen abgefedert werden mussten. Der Personalmangel zum Beispiel in der Pflege ist nicht neu, aber in der Krise hat er eine neue Dimension erreicht.
Viele Beschäftigte in systemrelevanten Berufen sind total überarbeitet, ihre Arbeitsbedingungen haben sich in den letzten beiden Jahren verschlechtert.
Politisch hat man wenig getan: Eine Bonuszahlung von 500 Euro für die “HeldInnen der Krise” lässt sich auf einer symbolischen Ebene verorten. Und selbst hier wollte man zum Beispiel Reinigungskräfte in den Spitälern ausnehmen. Grundsätzliche Bemühungen, an den Arbeitsbedingungen etwas zu ändern, gibt es kaum.
Die Leistung ist immens – das Gehalt aber niedrig
Die Leistung für die Gesellschaft ist groß, das spiegelt sich auch in dem Begriff Systemrelevanz. Wie hängen Leistung und Bezahlung auf unserem Arbeitsmarkt zusammen?
Schönherr: Der Leistungsbegriff hat heute einen stark neoliberalen Beigeschmack. Bis in die 1980/90er Jahre hinein war Leistung ein inklusiver Begriff, bei dem sich viele mitgemeint gefühlt haben. Ab den 1980er Jahren ist er dann zu einem sehr exklusiven Begriff geworden, mit dem zum Beispiel Topverdiener und Führungskräfte gemeint sind und nicht die breite Masse der Beschäftigten.
Leistung war historisch lange ein emanzipatorischer Begriff, bei dem es darum ging, dass nicht meine Herkunft oder meine Hautfarbe meinen Platz in der Gesellschaft bestimmen sollen, sondern meine Leistung. Das war die Abkehr vom aristokratischen Prinzip. Bis in die 80er Jahre war grundsätzlich die eigene Arbeit die Leistung. Mit der neoliberalen Umdeutung von Leistung sind die, die sich körperlich und psychisch stark in der Arbeit verausgaben, aus dem Leistungsbegriff verdrängt worden. Gleichzeitig fand auch eine andere Entwicklung statt:
Die Reallöhne haben aufgehört, parallel zur Produktivität zu steigen, das Verhältnis hat sich entkoppelt. Dazu passt die Ideologie, dass nicht die Altenpflegerin, der Handwerker oder die Supermarktkassiererin die Leistungsträger sind, sondern der Vorstandsvorsitzende, der Unternehmensberater oder der Aktienbesitzer.
Das ist im letzten Jahrzehnt zweimal brüchig geworden. 2008/09 haben wir bei der Finanzkrise gesehen, dass die Bankenmanager ihre Arbeit vielleicht doch nicht so gut machen. Und bei der Corona-Krise haben wir vor Augen geführt bekommen, auf welche Berufe wir als Gesellschaft nicht verzichten können und dass die Bezahlung nichts damit zu tun hat, wie relevant eine Arbeit für uns ist. Man müsste den Leistungsbegriff wieder den Menschen zurückgeben, die gesellschaftlich nützliche Arbeit leisten. Die Reinigungskräfte, die PflegerInnen und die KindergartenpädagogInnen sind keine Opfer, sondern Leistungsträger. Sie selbst wussten schon vor der Corona-Krise, wie wichtig sie sind. Dieses Selbstverständnis müssen wir aufgreifen und hervorheben. Heute würde ich die Studie nicht “systemrelevante Berufe” nennen, sondern “Die LeistungsträgerInnen”.
Die Beschäftigte in den systemrelevanten Berufen empfinden ihre Arbeit als sinnvoll. Fühlen sie sich auch wertgeschätzt?
Schönherr: Es gibt Untersuchungen zum Berufsprestige, die messen, wie angesehen ein Beruf in der Gesellschaft ist. Da gibt es große Unterschiede auch innerhalb der Gruppe der systemrelevanten Berufe. ÄrztInnen sind sehr angesehen, Lehrerinnen und Lehrer auch, Reinigungskräfte und SupermarktkassiererInnen weniger. Wir haben unter den systemrelevanten Berufen im Mai 2020 gefragt, also zu Beginn der Pandemie, ob sie sich jetzt mehr wertgeschätzt fühlen. Die Hälfte von ihnen sagte damals “Ja”. Das gibt vor allem einen Hinweis darauf, wie wenig sie sich davor wertgeschätzt gefühlt haben. Ich würde aber bezweifeln, dass von der gefühlten Wertschätzung am Anfang der Pandemie jetzt noch viel übrig ist. Das geringe Berufsprestige passt allerdings nicht zu dem Bild, dass diese Menschen selbst von ihrem Beruf haben. Sie wissen, dass das, was sie machen, wichtig ist und viele davon abhängen.
Die Streiks des Gesundheitspersonals oder der KindergartenpädagogInnen in Österreich oder Deutschland haben auch gezeigt, wie viel es da um Wertschätzung geht. Die zentralen Forderungen sind nicht in erster Linie höhere Löhne, sondern dass sie ihre Arbeit für uns alle besser machen können – unter besseren, nicht kaputt machenden Arbeitsbedingen. Beschäftigte in Gesundheitsberufen oder in der Kinderbetreuung haben eine hohe intrinsische Motivation, die wollen ihre Arbeit so gut wie möglich machen. Aber sie sind oft gezwungen, ihre Arbeit unter unwürdigen Bedingungen zu machen. Umso wichtiger ist es, dass diese Leute auf die Straße gehen und sagen: Wir würden unsere Arbeit gerne unter würdigen Bedingungen machen.
Jede 2. Pflegekraft ist finanziell vom Parnter abhängig, weil sie zu wenig verdient
Viele Beschäftigte in der Pflege oder im Einzelhandel sagen, dass sie von ihrem Einkommen nicht leben können und auf finanzielle Unterstützung vom Partner oder Verwandten angewiesen sind…
Schönherr: Einerseits gibt es in manchen Berufen viel Befristung und Leiharbeit, was einen Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung und wieder Arbeitslosigkeit auslöst. Viele arbeiten auch Teilzeit, weil man in diesen sehr anstrengenden Berufen gar nicht Vollzeit arbeiten kann. Teilzeit ist dort das Normalarbeitsverhältnis, einerseits aus Gründen der Vereinbarkeit, aber auch wegen der Arbeitsbelastung.
In der Pflege arbeiten 80 Prozent in Teilzeit, weil der Beruf einfach zu anstrengend ist. Das lässt sich nicht ein Leben lang 40 Stunden durchhalten.
Das Problem ist nicht die Teilzeit an sich, sondern es sind die Rahmenbedingungen. In Österreich ist jede dritte Frau auf das Partner-Einkommen angewiesen, in der Pflege sind es 40 bis 50 Prozent. Nicht ohne Grund war die Arbeitszeitverkürzung die zentrale Forderung bei den Streiks der Pflege- und Sozialberufen vor der Pandemie.
Es wurde immer mehr ausgelagert – das rächt sich nun
Welche Rolle spielt die Logik der Profitmaximierung für diese Arbeitsverhältnisse?
Schönherr: Je geringer das Berufsprestige umso häufiger arbeiten Menschen in Firmen, die die Gewinnorientierung über das Wohlergehen der Menschen stellen. Dort bekommt man nicht nur weniger Gehalt, sondern auch deutlich seltener Sonderzahlungen oder betriebliche Sozialleistungen wie Prämien oder betriebliche Altersvorsorge.
Früher waren alle – von der Reinigungskraft bis zum Abteilungsleiter – im Unternehmen angestellt. Im Zuge der Umstruktierungen wurden Wachdienste oder Reinigungskräfte ausgelagert. Da gibt es dann die Unterscheidungen zwischen Stammbelegschaft und Randbelegschaft. Manche Unternehmen merken jetzt die Nachteile dieser Auslagerung und machen sie zum Teil wieder rückgängig.
Dass Reinigungskräfte vor dem Bürobetrieb zwischen fünf und sieben Uhr Früh arbeiten müssen, ist schlecht für den Zusammenhalt und die Integration in einem Betrieb. Einige Firmen kehren wieder dahin zurück, dass die Reinigungskräfte ihre Arbeit auch unter Tags erledigen können und nicht nur wie die Heinzelmännchen in der Nacht und den frühen Morgenstunden arbeiten müssen. Auch die Regalbetreuerinnen schlichten die meisten Waren vor halb 8 ein, also bevor die Kunden kommen. In der Pflege ist das Heben, das Tragen und das Waschen ebenfalls kaum sichtbar für uns. All diese Arbeiten finden im Verborgenen statt. Umso wichtiger ist es, dass das Gesundheitspersonal auf die Straße geht und über die Arbeitsbedingungen spricht.
Der niedrigen Bezahlung steht eine hohe Arbeitsbelastung gegenüber. Viele haben in der Mitte ihres Lebens schon körperliche und psychische Probleme und glauben, den Job nicht bis zur Pension ausüben zu können. Eigentlich ist das Schwerarbeit, oder?
Schönherr: Man kann die Arbeitsbelastung in bestimmten Berufen objektiv messen. Da gibt es einen Kriterienkatalog mit Fragen: Wie oft musst du schwer heben? Musst du unter Hitze und Staub arbeiten? Unter Zeitdruck, Termindruck, Einsamkeit und Isolation? Gibt es viel emotionale Belastung?
So kann man für jeden Beruf einen Indexwert von körperlicher und emotionaler Belastung ermitteln. Bei den systemrelevanten Berufen haben Reinigungskräfte die größte körperliche Belastung. Die ist ähnlich groß wie bei Bau- oder Lagerarbeitern. Die psychosoziale Belastung ist in der öffentlichen Sicherheit, der Pflege und auch im Einzelhandel am höchsten. Die deutsche Böckler-Stiftung hat mit diesen Daten die geschlechtsneutrale Bewertung aller Berufe angeschaut.
Eine Pflegerin verdient um 12 bis 13 Euro weniger als andere Berufe mit den selben Belastungswerten. Das ist ein statistischer Beleg für die ökonomische Abwertung von Frauenberufen.
Frauen und Männer, die unter den selben Arbeitsbelastungen arbeiten, verdienen deutlich unterschiedlich. Das ist aber nicht erst in den 80er und 90er Jahren entstanden, das hat eine lange Tradition.
Wie fühlen sich diese Menschen von der Politik vertreten? Was würden die sich wünschen?
Schönherr: Da gibt es große Unterschiede: ÄrztInnen und LehrerInnen haben das Gefühl, dass die Politik sie gut behandelt und sie auch Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Für Reinigungs- und Pflegekräfte oder Supermarktangestellte gilt das nicht. Da haben die Meisten den Eindruck, dass sie keinen Einfluss auf politische Entscheidungen haben.
KollegInnen aus Deutschland haben sich die Entscheidungen im Bundestag über 30 Jahre lang angeschaut und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass praktisch alle Entscheidungen den politischen Anliegen der oberen Einkommensklassen gefolgt sind.
Der Eindruck im unteren Drittel, dass politische Entscheidungen auf ihre Bedürfnisse keine Rücksicht nehmen – der stimmt. Bei den mittleren und höheren Einkommensgruppen hängt das Vertrauen in die Politik stärker von aktuellen politischen Geschehnissen ab. Da spielen die Pandemie-Politik und die Korruptionsermittlungen eine größere Rolle. Nach „Ibiza“ haben wir aber auch gesehen, dass sich das Vertrauen in diesen Gruppen relativ schnell wieder erholen kann. Beim unteren Drittel ist und bleibt es hingegen konstant gering. Da zeigen sich deutliche Klassenunterschiede, zu denen es auch harte Zahlen gibt: Die politischen Anliegen der unteren Klassen haben wenig Chance, dass sie auch umgesetzt werden.
Systemrelevante Arbeit ist häufig Frauenarbeit. In acht von elf „systemrelevanten“ Berufen arbeiten überwiegend Frauen:
– 88% der Beschäftigten in der Kinderbildung sind Frauen
– 86% an der Kasse bzw. Regalbetreuung
– 83% der Reinigungskräfte
– 82% im Bereich Pflege und medizinische Betreuung
– 80% in der medizinischen Assistenz
– 78% in der Alten-/Behindertenbetreuung
– 58% des Lehrpersonals
Beim Einkommen liegen Reinigungskräfte und Einzelhandelsangestellte am unteren Ende – sie verdienen im Schnitt weniger als 1.300 Euro netto pro Monat und kommen mit ihrem Einkommen mehrheitlich nur knapp oder gar nicht aus.
Beschäftigte in der Reinigungsbranche sind am stärksten von atypischen Arbeitsverträgen betroffen, darunter geringfügige Beschäftigung (14 Prozent) oder Leiharbeit (8 Prozent). Auch Beschäftigte in der Altenpflege und Behindertenbetreuung sowie im Einzelhandel sind häufiger geringfügig, befristet oder als LeiharbeiterIn beschäftigt. Oftmals haben die Beschäftigen Migrationshintergrund: 56 Prozent der Reinigungskräfte und 22 Prozent der Kassa- und Verkaufskräfte kommen aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien oder osteuropäischen Ländern.
Überstunden gehören für viele der systemrelevanten Beschäftigten zum Arbeitsalltag:
– 8 von 10 Beschäftigten in der öffentlichen Sicherheit und in Lieferdiensten müssen zumindest gelegentlich Überstunden machen.
– 7 von 10 Beschäftigten in Gesundheit und Pflege und fast ebenso viele Handelsangestellte müssen regelmäßig Überstunden machen.
Hinzu kommt in vielen Berufen die Arbeit zu Randzeiten, etwa am Wochenende oder in der Nacht. Das senkt die Lebensqualität und Gesundheit, zusätzlich zu den ohnehin bereits hohen körperlichen und vor allem psyschosozialen Belastungen im Arbeitsalltag. Durch die hohen Arbeitsbelastungen glauben viele Beschäftigte in den systemrelevanten Berufen nicht, ihre Berufe bis zur Pension ausüben zu können.
Mehr als 6 von 10 der über 45-jährigen Beschäftigten in der Pflege, der medizinischen Betreuung oder der Reinigung und sogar 7 von 10 in der Altenpflege und Behindertenbetreuung halten es für unwahrscheinlich, bis zur Pension durcharbeiten zu können.