Der Sozialstaat sichert uns ab, schützt vor Elend und soll ausgleichen. Finanziert wird er überwiegend von Beschäftigten und Konsumenten. Die Reichen tragen kaum etwas bei. Sie werden trotz Krise nicht zur Kassa gebeten. Stattdessen redet man über Kürzungen bei Arbeitslosen. Damit wird das zentrale Element unseres demokratischen Systems bedroht: Die Solidargemeinschaft.
Säuglinge, Kinder, chronisch Kranke, Pflegebedürftige, Schwangere, Alte, Arme und Menschen mit Behinderungen – sie brauchen unseren Sozialstaat am meisten. Fast jeder von uns ist irgendwann im Leben zumindest temporär auf ihn angewiesen, manche auch fundamental. Ein flächendeckendes, solides, niederschwelliges und vor allem auch finanziell gut abgesichertes Sozialsystem ist nicht nur wichtig, sondern schlicht überlebensnotwendig – für den Einzelnen, wie für die Gesellschaft.
Ohne eine staatliche soziale Absicherung könnten sich viele von uns keine medizinische Betreuung, geschweige denn eine Arbeitslosen- oder Pensionsversicherung leisten. Jeder Schicksalsschlag – wie der Verlust des Arbeitsplatzes oder eine Krankheit – würde die Existenz bedrohen und Einzelne im schlimmsten Fall zu einem Leben im Elend verurteilen. Nachweislich. Dafür müssen wir nur Beispiele aus anderen Ländern heranziehen, wo der Sozialstaat unter grausamen Konsequenzen bereits abgebaut wurde.
Solidargemeinschaft als notwendiger Ausgleich gegen Ungleichheit
In Griechenland sind als Folge der verordneten Sparpolitik die Suizide zwischen 2007 und 2011 um 45 Prozent gestiegen, schwere Depressionen haben sich verdoppelt. Die Zahl der Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht ist von 2008 bis 2010 um 19 Prozent gestiegen, jene der Totgeburten um 20 Prozent und die Säuglingssterblichkeit sogar um 43 Prozent.
Oder in England, wo bis heute die Folgen der Thatcher-Politik nachwirken: Die Vernichtung von tausenden Arbeitsplätzen in der Industrie, die Zerschlagung der Gewerkschaften und eine radikale Zusammenkürzung des Sozialstaats. Mit dem Resultat, dass die Lebenserwartung in Calton im schottischen Glasgow, wo die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch ist wie im Landesdurchschnitt, nur 54 Jahre beträgt. Wohingegen im noblen Londoner Kensington die Menschen im Schnitt um 30 Jahre länger leben. Arme Menschen leben grundsätzlich deutlich kürzer als sozial Bessergestellte und leiden häufiger an chronischen Krankheiten, die kostenintensiv sind.
Sei es nach einem Unfall, einer schweren Erkrankung, in der Schwangerschaft oder bei Arbeitslosigkeit: Wir alle profitieren von unserem Sozialstaat. Ohne Ausnahme. Wir alle haben etwas davon, dass wir im Staat solidarisch zusammenlegen – um schwere Phasen im Leben zu überwinden, uns in Notlagen zu unterstützen. Durch die gegenseitig Unterstützung im Sozialstaat mildern wir auch die soziale Ungleichheit ab, was nachweislich zu größerer Zufriedenheit und mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt führt.
Wer finanziert den Sozialstaat – und wer tut es nicht?
Unser Sozialsystem wird überwiegend von der arbeitenden Bevölkerung getragen. Sie finanzieren 41,2 Prozent, während lächerliche 1,4 Prozent aus vermögensbezogenen Steuern stammen. Lächerlich, weil wir damit weit unter dem EU-Schnitt von 6 Prozent liegen. Denn im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern in Europa werden keine Erbschaftssteuern erhoben, und nach wie vor ist die Besteuerung auf Kapital verschwindend gering oder wird trickreich umgangen.
Entgegen rassistischer Polemik, zahlen BürgerInnen mit ausländischer Staatsbürgerschaft sogar deutlich mehr ins Sozialsystem ein, als sie erhalten. Sie haben 2015 etwa 9,5 Prozent aller Sozialbeiträge eingezahlt, aber nur 6,1 Prozent der Leistungen herausbekommen. Pro Kopf bekamen ÖsterreicherInnen um 970 Euro mehr als sie beisteuerten, ausländische StaatsbürgerInnen um 1490 Euro weniger.
Vor allem unser Pensionssystem wird stark von ihnen gestützt, weil überproportional viele unter 50 Jahre alt sind und damit in einem Lebensabschnitt, in dem das Gros der Sozialabgaben anfällt.
Aber ungeachtet dieser Tatsache wird darüber debattiert, ob BürgerInnen mit ausländischer Staatsbürgerschaft einen späteren Zugang etwa zu Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe erhalten sollten. Um Geld kann es bei diesem Vorschlag nicht gehen: In der Praxis würde diese Maßnahme aktuell nur 116 Menschen betreffen, damit wäre der Verwaltungsaufwand wohl weit höher als die Einsparungen. Der Gedanke liegt nahe, dass derartige Symbolkürzungen gefordert werden, um berechtigten Forderungen nach höheren Mindestlöhnen vermeintlich etwas entgegenzusetzen. Eine Scheindebatte, die Alternativen zur Sparpolitik, wie höhere Mindestlöhne, den Raum nimmt.
Der Sozialstaat ist die Verpflichtung, ein menschenwürdiges Leben für Alle zu ermöglichen
Unser Sozialstaat sorgt dafür, dass auch Kinder aus armen Familien die Schule abschließen und studieren können. Zwar immer noch unter schlechteren Bedingungen als Kinder von Wohlhabenden, aber immerhin mit einer echten Perspektive. Er sorgt dafür, dass Schicksalsschläge nicht zu Obdachlosigkeit und absoluter Verelendung führen. Er fördert Selbstbestimmtheit und verringert Abhängigkeiten.
Wenn die Interessen von vielen und nicht von ein paar wenigen im Vordergrund stehen, dann muss es darum gehen, wie wir unseren Sozialstaat verbessern können – indem wir ihn stärken und nicht durch Kürzungen zu Tode reformieren. Ein Fundament für einen starken Sozialstaat muss auf einer breiten Finanzierungsgrundlage durch alle gesellschaftlichen Gruppen basieren. Also vor allem auch jene einbeziehen, die am meisten von unternehmerischen Gewinnen profitieren und bislang kaum einen Beitrag leisten.
Der soziale Staat muss von allen gesellschaftlichen Gruppen getragen werden
Wir brauchen eine echte Erbschafts- und Vermögensbesteuerung, das muss das oberste Anliegen sein, wenn Arbeitende entlastet werden und der Sozialstaat stabil sein soll. Außerdem müssen Veränderungen unserer Arbeitswelt mitbedacht werden. Schließlich fördern profitorientierte Rationalisierungsprozesse prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Diese führen langfristig in die Altersarmut, weil sie kaum Versicherungsbeiträge abwerfen. Während gleichzeitig gezielte „Steueroptimierung“ betrieben wird und Gewinne auf ausländische Konten verschoben werden. Profunde Konzepte zur Wertschöpfungsabgabe oder einer Digitalen Dividende gibt es hinreichend. Eine Pensionsversicherung, die sich auf private Finanzierungsmodelle stützt, eine Krankenversicherung, die Kranke mehr zahlen lässt als Gesunde, macht jedoch keinen Sozialstaat.
Eine Solidargemeinschaft, die nur bei Schönwetter gilt, ist nicht solidarisch. Wir haben die Möglichkeit mitzuentscheiden, wie unser Sozialstaat zukünftig gestaltet und wie mit uns umgegangen wird. Dazu gilt es, einerseits immer wieder zu betonen, wie essentiell der Sozialstaat für uns alle, vor allem aber für die Schwächsten ist. Und es gilt die erkämpften Rechte zu verteidigen, dagegen zu halten. Einmal mehr: Organisieren wir uns!
Veronika Bohrn Mena ist in der GPA-djp Interessenvertretung tätig. Sie ist Vorsitzende der Plattform Generation Praktikum und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit atypischer und prekärer Arbeit.
[…] Unser Sozialstaat rettet Leben. Wer ihn abbaut, macht uns abhängig von Almosen. (Kontrast.at) […]
[…] einen gesellschafts- und sozialpolitischen Rückschritt. Denn wie schon in einer meiner letzten Kolumnen über den Sozialstaat beschrieben, müssen Arbeit und soziale Absicherung gemeinsam gedacht […]
[…] festzustellen, auch längere Wochenarbeitszeiten führen zu steigender Unfallgefahr. Der Sozialstaat trägt diese Kosten – und damit wir selbst über unsere Steuern. Wir zahlen also nicht nur […]
[…] Großeltern und uns selbst. Wir alle profitieren von ihm, ausnahmslos – wie ich in meiner letzten Kolumne gezeigt […]
Leider sind wir in Deutschland schon ein wenig weiter in Richtung Zerschlagung des Sozialstaates gegangen. Doch viele wollen nicht sehen, dass es besser geht als bei uns. Und daß Sparpolitik nicht immer gut ist, zeigt Portugal, wo es nach dem Ende derselben wirtschaftlich aufwärts geht.