Die SPÖ feierte am Sonntag einen fulminanten Erfolg. Sie ging mit über 42 Prozent als deutlicher Sieger der Wien-Wahl 2020 hervor und hat rund 23 Prozentpunkte Vorsprung auf die zweitplatzierte ÖVP. Ein Ergebnis, mit dem vor wenigen Monaten noch niemand gerechnet hatte. Damals stand die SPÖ in Umfragen bei 35 Prozent und Blümel träumte vom Bürgermeisterposten. Der Wahlsonntag war ein Debakel für das rechte Lager. Wer auf welche Themen setzte und welche Partei vom Verlust der anderen profitieren konnte.
Michael Ludwig konnte mit der SPÖ bei seiner ersten Wien-Wahl als Bürgermeister einen Achtungserfolg erzielen. Wien bleibt fest in roter Hand: 42 Prozent wählten die Bürgermeister-Partei – gegen sie gibt es keine realistische Mehrheit und Ludwig kann sich seinen Koalitionspartner aussuchen. Das ist das Ergebnis eines engagierten Wahlkampfes und erfolgreicher Politik der letzten Jahre. Auch ÖVP, Grüne und Neos konnten zulegen. Doch die Volkspartei startete von einem historischen Tief aus, ihr Koalitionspartner auf Bundesebene die Grünen konnten das erste Mal seit 2005 Zugewinne verbuchen.
SPÖ gewinnt in den Flächenbezirken
Die Sozialdemokraten haben in den großen Außenbezirken wie Favoriten, Simmering, Floridsdorf und Donaustadt überdurchschnittlich dazu gewonnen. Die FPÖ hat in Simmering auch den einzigen blauen Bezirksvorsteher verloren, Paul Stadler wird von Thomas Steinhart als Bezirkschef abgelöst. In allen Flächenbezirken Wiens hat sich der vormals oft knappe Abstand zwischen FPÖ und SPÖ stark vergrößert. Das kann die SPÖ jetzt nutzen, um die Wähler und Wählerinnen dort langfristig an sich zu binden.
Insgesamt haben sich die Bezirke Wiens stärker rot gefärbt: Bisher waren 15 von 23 Bezirke SPÖ-geführt, vier Bezirkschefs stellte die ÖVP, drei kamen von den Grünen und einer von der FPÖ. Diesmal dürften es 17 SPÖ-Vorsteher werden: Im kleinsten Bezirk Wiens, der Inneren Stadt, gewann der türkise Bezirksvorsteher Markus Figl. Auch in den sehr bürgerlichen Bezirken Döbling und Hietzing wird die ÖVP den Bezirksvorsteher behalten – auf Gemeindeebene wählten aber sogar der 19. und der 13. Bezirk mehrheitlich SPÖ. In Neubau und Währing wurden die Grünen Erster und werden erneut den Bezirksvorsteher stellen, in der Josefstadt werden sie den Bezirk voraussichtlich von der ÖVP übernehmen. Überhaupt gewinnen die Grünen in den Innenstadtbezirken deutlich dazu, dennoch haben sie im zweiten Bezirk die Vorsteherin verloren.
FPÖ verliert zwei Drittel ihrer Wähler
Die FPÖ ist bei dieser Wien-Wahl noch tiefer abgestürzt als erwartet. Die Niederlage des rechten Lagers dürfte mehr sein als ein kurzfristigen Ibiza-Knick: Auf 7,7 Prozent der Stimmen ist das rechte Lager abgerutscht und hat über 23 Prozent der Stimmen verloren. Das ist eine deutlich härtere Niederlage als noch bei der Nationalratswahl, aber auch bei den Landtagswahlen im Burgenland und in der Steiermark. Bei der ersten bundesweiten Wahl nach Ibiza hat die FPÖ 9,8 Prozent der Stimmen verloren und lag noch bei 16,2% – in Wien verlor sie jetzt mehr als doppelt so viel.
Auch das schlechteste Wien-Ergebnis nach der letzten FPÖ-Spaltung in Knittelfeld 2005 lag immerhin noch bei 14,8 Prozent. Damals steckte die FPÖ in einer enormen Krise, weil sie in der Koalition mit der Schüssel-ÖVP neoliberale Reformen wie die größte Pensionskürzung der Zweiten Republik oder die Ambulanzgebühren zu verantworten hatte. Doch auch damals verloren die Rechten bei den Wahlen 2001 und 2005 deutlich weniger.
Und der extreme Verlust liegt nicht am Team HC Strache: Die FPÖ konnte fast zwei Drittel ihrer Wähler nicht halten, aber nur wenige von ihnen liefen zu Heinz-Christian Strache über. Von über 200.000 verlorenen Stimmen, bekam Strache nur rund 25.000. Viele der FPÖ-Wähler wollte Gernot Blümel mit seinem rechtspopulistischen Kurs anziehen: Doch auch er konnte nur 9,6 Prozentpunkte dazugewinnen – weniger als erwartet und nur etwa die Hälfte der ehemaligen FPÖ-Wähler.
Hatte Schwarz und Blau in Wien 2015 zusammen noch knapp 40 Prozent, sind es jetzt nur mehr 26.
ÖVP kommt bei den Jungen nicht vom Fleck
Für ÖVP und FPÖ war aber auch das Ergebnis bei den unter 30-Jährigen besonders bitter. SPÖ und Grüne kommen hier gemeinsam auf über 60 Prozent. Die Freiheitlichen stürzten bei dieser Gruppe von 24 auf 5 Prozent ab. Auffällig ist, dass die ÖVP von dem blauen Desaster bei den Jungen so gut wie gar nicht profitieren konnte. Von den 19 Prozent FPÖ-Verlust bekam die Volkspartei unter Blümel gerade einmal ein Prozent ab und steigerte sich von 6 auf 7 Prozent.
ÖVP setzt auf FPÖ-Themen
Während sich FPÖ und HC Strache in erster Linie darüber stritten, wer das Original und wer die Kopie der rechtspopulistischen Politik ist, konzentrierte sich ÖVP auch auf das Wählersegment am rechten Rand. Gernot Blümel setzte auf die Themen Integration und Wirtschaft.
Hinter seiner Forderung nach “Leistung für Wien” steckt das Verlangen nach einer beinharten Law and Order-Politik. Über Wirtschaftsförderungsprogramme sprach er dabei selten. Er begnügte sich damit, den Wienern mehr oder weniger unterschwellig Faulheit vorzuwerfen, weil 64 Prozent aller Mindestsicherungs-Empfänger in der Hauptstadt leben. Dass das auch daran liegt, dass die ÖVP-geführten Bundesländer die Schrauben bei den Empfängern ansetzen, verschweigt er. Die ehemaligen FPÖ-Wähler belohnten ihn für diesen rechten Kurs mit 43.000 von allen 131.000 ÖVP-Stimmen.
Neos fischt bei ÖVP und Grünen
Die Neos gingen indes auf Stimmenfang bei den konservativen ÖVP-Wählern, die dieser ultrarechte Kurs abschreckte. Neben den typischen Themen Bildung und Wirtschaft zeigten sie in der Flüchtlingsfrage Kante. Dabei fischten sie nicht nur im Teich der enttäuschten Grünen. Auf Social Media posteten sie ein Bibel-Zitat, das den moralischen Verfall der ehemals Christlich-Sozialen ÖVP zeigen sollten. Mit Erfolg: Jeweils 10.000 Stimmen von ÖVP und Grünen gingen auf das insgesamt 54.000 Stimmen-Konto der Neos.
Gepostet von NEOS Wien am Mittwoch, 9. September 2020
Michael Ludwig punktet mit sozialen Themen
Die SPÖ setzte auf ein breites Mitte-Programm. Arbeit, Bildung, Klima, Wohnen und Gesundheit waren die Schwerpunkt-Themen. Und die Bevölkerung traute Michael Ludwig und seiner SPÖ am ehesten zu, die Stadt sicher durch die Corona-Krise zu bringen. Ludwig betonte die abgeschlossenen Projekte der letzten Jahre und die Vorzeige-Zahlen in Sachen Wohnen, Gesundheit und Ganztagsschule.
Für kommenden Jahre kündigte der alte und neue Bürgermeister eine Pflegegarantie für alle Wienerinnen und Wiener an, eine Lehrplatzgarantie und einen „Wien Bonus“ für die Wirtschaft zur Förderung von nachhaltig produzierten, regionalen Produkten. Dazu will die Stadt merklich kinder- und jugendfreundlicher werden.
In seinen Wortmeldungen betonte Ludwig den Zusammenhalt aller Wienerinnen und Wiener – vor allem gegen die FPÖ und THC. So forderten in der Frage um den Zugang zu Wiener Gemeindewohnungen FPÖ und THC die Staatsbürgerschaft als Zugangshürde, die ÖVP wollte ein bestimmtes Deutsch-Level. Michael Ludwig gab sich auch hier pragmatisch-mittig: “Wer die Gemeindebauten errichtet, soll auch darin wohnen dürfen.”
Dieser pragmatische Weg der Mitte hat sich bezahlt gemacht: Die SPÖ verliert zwar mit 73.000 Stimmen am zweitmeisten nach der FPÖ (101.000) an die Nichtwähler. Die Sozialdemokraten können allerdings auch mit 67.000 fast so viele Stimmen aus anderen Lagern für sich gewinnen.
Grüne mit Nischenprogramm Verkehr
Nachdem die SPÖ mit Umweltstadträtin Ulli Sima im Wahlkampf 2020 die Themen Umwelt und Klima besetzten, zogen sich die Grünen auf Verkehrsberuhigung zurück. Nicht umsonst waren die Leuchtturm-Projekte der Grünen im Wahlkampf der Gürtel-Pool (in dem sich Corona-bedingt nur sechs Personen gleichzeitig aufhalten durften) und die autofreie Innere Stadt. Mit den Pop-Up-Radwegen und gekühlten Straßen setzten sie Akzente in der Stadtplanung. Eine Verbannung der Autos aus dem ersten Bezirk, verkehrsberuhigte, begrünte Straßen und breite Rad-Autobahnen zielen auf die Kernwählerschaft der Grünen ab. Die Anzahl der Radfahrer hat sich seit dem Vorjahr wegen Corona von 675.000 um 45 Prozent auf 981.000 erhöht.
Mit Projekten im öffentlichen Raum und mit Gesundheitsminister Rudolf Anschober auf den Plakaten schafften sie es, nach der SPÖ (16.000 Stimmen) mit 10.000 Stimmen am zweitmeisten Nichtwähler zum Wahlgang zu motivieren. Gemeinsam mit den Stimmen derer, die vor fünf Jahren andere Parteien gewählt haben, wechselten insgesamt nur 30.000 Wähler zu den Grünen. Zur SPÖ waren es 67.000, zur ÖVP 75.000, zu den Neos 32.000. Den größten Zuwachs hatte allerdings das Lager der Nichtwähler: 182.000 Menschen, die bei der letzten Wien-Wahl noch teilnahmen, blieben dieses Jahr der Urne fern.