Die Fahrradbranche boomt. Doch wie werden Fahrräder, die unseren Verkehr entschleunigen und das Klima schützen, hergestellt? Große Marken wie Bianchi, Canyon, Centurion, Giant oder Merida nehmen für ihre Profite Ausbeutung in Kauf. In Taiwans Produktionsstätten arbeiten Tausende Migrant:innen unter Zwang, wie eine Recherche von Le Monde Diplomatique zeigt. Sie müssen Schulden an Vermittler abzahlen, werden ihrer Pässe beraubt und leben in rattenverseuchten Behausungen.
Der globale Fahrradmarkt ist mit einem Volumen von rund 66 Milliarden US-Dollar (Stand 2024) ein milliardenschweres Geschäft. Le Monde Diplomatique hat recherchiert, was sich hinter der glänzenden Fassade der Branche verbirgt: In Taiwans Produktionsstätten für Fahrradteile herrschen Zustände, die laut der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) als Zwangsarbeit gelten.
Arbeitsvermittler knöpfen Arbeiter:innen schon im Vorfeld Tausende Dollar an Gebühren ab
Taiwan hat sich zu einem Zentrum der weltweiten Fahrradproduktion entwickelt, insbesondere in der Stadt Taichung. Viele der weltweit führenden Fahrradmarken – Bianchi, Canyon, Centurion, Giant, Merida, Pinarello, REI, Scott, Specialized und Trek – lassen seit Jahren Fahrräder oder Einzelteile in Taiwan fertigen. Rund 40 Prozent aller Fahrräder, die nach Europa exportiert werden, stammen von dort. Hauptabnehmer sind die Niederlande, Deutschland und Großbritannien.
Hersteller wie Giant, Merida und Maxxis haben in Taiwan Produktionsstätten und beschäftigen – zusammen mit vielen Zulieferern – Tausende von Migrant:innen aus Vietnam, Indonesien, Thailand und den Philippinen. Diese stellen Fahrradteile und Reifen her, oft unter ausbeuterischen Bedingungen.
Die Arbeitskräfte, die zuvor verzweifelt Jobs gesucht haben, werden über Vermittler:innen angeworben. Diesen müssen sie hohe Gebühren zahlen, die oft mehrere Tausend Dollar ausmachen – eine Summe, die für viele Arbeiter fast unvorstellbar hoch ist. Denn das ist mehr, als sie in mehreren Jahren insgesamt an Lohn erhalten.
Je nach Herkunft der Menschen unterscheiden sich Kosten für die Vermittlung. Betroffene, die mit Le Monde Diplomatique gesprochen haben, berichten von 1.500-1.700 Dollar, wenn man von den Philippinen stammt. Vietnames:innen müssen sogar bis zu 6.000 Dollar bezahlen.
Verschuldete Arbeiter:innen stehen plötzlich ohne Reisepass da
Um diese hohen Vermittlungsgebühren zurückzuzahlen, verschulden sich die Arbeiter:innen schon im Vorfeld und müssen sich von Banken oder Verwandten Geld leihen. In vielen Fällen sind sie gezwungen, Kredite mit überhöhten Zinsen aufzunehmen, um die Gebühren zu begleichen. Dadurch sind sie in einer Schuldknechtschaft gefangen.
Zudem berichten Betroffene von Freiheitsberaubung: Ihnen werden ihre Reisepässe entzogen oder ihnen wird verboten, frei über ihre Löhne zu verfügen.

Ratten in Schlafsälen und Lohnabzüge bei kleinsten Vergehen
Die Folgen dieser Praktiken sind weitreichend: Arbeiter:innen berichten von schlechten Lebensbedingungen in überfüllten und unhygienischen Schlafsälen, die von den Unternehmen bereitgestellt werden. Zwischen den Betten tummeln sich Ratten. Für geringfügige Verstöße gegen Firmenvorschriften gibt es Lohnabzüge.
Die Reaktion der Fahrradhersteller auf die Enthüllungen waren gemischt. Einige Unternehmen, wie Giant, haben nach Nachfragen durch Le Monde Diplomatique versprochen, die Gebührenerhebung für neue Arbeitskräfte ab 2025 zu beenden – allerdings eben nur für neue. Giant hat sich auch verpflichtet, keine Löhne mehr vorzuenthalten.
Auch einige europäische Marken wie Bianchi und Canyon haben angekündigt, keine Gebühren mehr zu tolerieren und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die Schuldknechtschaft Tausender schon bestehender Arbeitskräfte bleibt allerdings ein Problem.
Zwei Zulieferern der deutschen Fahrrad- und Autoreifen-Marke Continental haben nach der Publikation von Le Monde Diplomatique ihre Arbeiter:innen mit mehr als 3 Millionen US-Dollar entschädigt.
Internationale Fahrradszene weniger empört als erhofft
Doch andere Unternehmen, darunter Merida, wollen sich nicht verpflichten, die Praktiken zu stoppen oder rückwirkend Entschädigungen zu zahlen. Und auch in anderen Unternehmen bleibt die Schuldknechtschaft ein Problem. Zwei US-Hersteller, Specialized und Trek, schwiegen monatelang zu den Enthüllungen.
Kein einziger Fahrradhersteller hat sich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass Wanderarbeiter:innen ihre Gebühren zurückbekommen.
Darüber hinaus gibt es eher verhaltene Reaktionen von internationalen Radrennveranstaltern und Teams, die mit diesen Marken zusammenarbeiten. Kritische Berichte beispielsweise anlässlich der Tour de France oder der Giro d’Italia sucht man laut Le Monde Diplomatique vergeblich. Die großen Marken stellen Rennräder her, Fachzeitschriften haben Einnahmen durch Werbeinserate der Unternehmen.
Firmen und Taiwans Regierung profitieren von Ausbeutung
Firmen wie Merida und Maxxis haben jahrzehntelang von den ausbeuterischen Praktiken profitiert. Ebenso wie die taiwanesische Regierung, da die staatliche Post beispielsweise Anteile an Giant hält. Die EU und die USA haben bereits Maßnahmen ergriffen: Die EU verbietet ab 2027 die Einfuhr von Produkten aus nachweislicher Zwangsarbeit – eine Regelung, die in den USA bereits gilt und dort schon bei bloßem Verdacht greift.
Trotz der Bemühungen um Verbesserungen in einigen Bereichen bleiben die Arbeitsbedingungen in Taiwans Fahrradindustrie ein ungelöstes Problem. Die Anwerbe-Gebühren und die damit verbundene Schuldknechtschaft sind nach wie vor ein Problem, das nicht nur die Arbeiter:innen selbst betrifft, sondern auch die gesamte Branche in Verruf bringt.
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