Regelmäßig in einem Restaurant zu essen, ist für viele Menschen auch ohne Pandemie nicht möglich, weil sie es sich nicht leisten können. Diese soziale Ungleichheit trifft vor allem Arbeiter mit Migrationsbiografie und schadet uns allen, sagt Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin und Autorin von “Wir”, im KONTRAST-Interview.
Je weniger ungleich eine Gesellschaft ist, umso besser und gesünder ist das für alle, sagt Kulturwissenschaftlerin Judith Kohlenberger in ihrem neuen Buch “Wir”. Darin zeigt die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger, dass unsere Gesellschaft schon vor Corona ungleich war, und warum nicht alle Menschen Teil des Wir sind, das die Politik in der Krise vielfach beschwor. “Ein anderes Wir ist möglich. Ein Wir, das nicht auf Ausgrenzung oder Abwertung beruht”, versichert sie in “Wir”.
Kontrast: Sie haben ein Buch über die Bedeutung des Wir geschrieben. Es beginnt mit dem Slogan “Wir müssen zusammenhalten” aus der Corona-Krise. Was ist nach einem Jahr von diesem Wir gegen die Pandemie übrig geblieben?
Judith Kohlenberger: Mich beschäftigt das Wir unabhängig von der Pandemie. Aber in der Corona-Krise wurde das Wir noch stärker aufgeladen. In den unzähligen Pressekonferenzen wurde viel an das Gemeinsame und an die Solidarität appelliert.
Aber wir sind nicht alle im gleichen Boot – das waren wir vor der Pandemie nicht und sind es jetzt noch weniger. Es gibt auf allen Ebenen Ausgrenzungserfahrungen von Menschen, die rechtlich und vor allem emotional nicht zum Wir gehören. Ab dem Sommer hieß es “Das Virus kommt aus dem Ausland” oder dass es Cluster auf “Türken-Hochzeiten” gäbe. Das ist klassisches othering, also Menschen zu Fremden zu machen und aus dem Wir auszuschließen. Das hat schon gezeigt, dass viele, die hier geboren und aufgewachsen sind, nicht dazugehören.
Gleichzeitig hat die Pandemie auch gezeigt, dass Menschen mit Migrationshintergrund ein großer Teil von diesem Wir sind, weil sie einen Großteil der Arbeitskräfte in den systemrelevanten Berufen ausmachen …
Ja, die Pandemie hätte uns einige Türen öffnen können beim Thema Zugehörigkeit. Aber wir sind nicht durch diese Türe gegangen – ganz im Gegenteil. Gerade bei den Systemerhaltern: Da sind viele Menschen dabei, die 2015 in der sogenannten Flüchtlingskrise zu uns gekommen sind und jetzt in der Corona-Krise ihren Beitrag leisten – als Erntehelfer, im Lebensmittelhandel. Die machen dort einen großen Teil dieser wichtigen Arbeit, das kommt aber in der öffentlichen Debatte überhaupt nicht vor.
Wir haben derzeit einen sehr stark verengten Blick aufs Wir: Rückbesinnung auf das Nationale, kaum internationale Kooperation, aber auch im höchstpersönlichen Bereich: Wenn sich die Bürgermeister bei den Impfungen vordrängen, sorgt das nicht für ein Wir-Gefühl.
Jetzt sind wir wohl in der Phase der Verwundung. Aber der Schmerz, der durch Ausgrenzung entsteht, heißt nicht, dass ein größeres Wir gescheitert ist. Ich sehe das als wesentliche Aufgabe für die Zeit nach der unmittelbaren Gesundheitskrise: Dann müssen realpolitische Maßnahmen dieses Zusammenwachsen fördern.
Was könnten das für Maßnahmen sein? Was braucht es für Bedingungen, um ein solidarisches Wir zu erreichen?
Das Fundament für ein Wir ist die rechtliche Gleichstellung. In vielen Bereichen haben wir das fast vollständig erledigt: Bei Mann und Frau geht es jetzt kaum mehr um rechtliche Gleichstellung, sondern eher um die sozial-ökonomische Gleichstellung. Bei Migration und Integration gibt es aber noch eine große rechtliche Lücke – das hat sich bei den letzten Abschiebungen gezeigt. Die Familien, die da abgeschoben wurden, haben eine große emotionale Zugehörigkeit zu Österreich. Rechtlich gibt es aber keine Grundlage dafür. Das Staatsbürgerschaftsrecht und das Asyl- und Fremdenrecht hinken der Realität hinterher.
Und dann geht es bei den Fragen der Zugehörigkeit natürlich auch um Herrschaftsverhältnisse. Um Macht und Verteilung – und das sind Kämpfe, die uns künftig stärker bevorstehen werden. Da muss die Politik viel machen.
Welche Rolle spielt soziale Ungleichheit für das Wir?
Das Wir hat auch ein paar Grundbedingungen: Den Rechtsstaat und Grundrechte, aber auch einen gewissen sozialen Ausgleich und eine gerechtere ökonomische Verteilung. Gerade in Krisenzeiten wie jetzt nimmt die Diskriminierung am Arbeitsmarkt und in der gesamten Gesellschaft zu. Die Flanken schließen, das ist ein Reflex in ökonomisch schwierigen Zeiten.
Wir müssen die Verknüpfung zwischen sozialer und ethnischer Herkunft thematisieren. In der Forschung nennen wir das Intersektionalität. In der politischen Debatte werden soziale Fragen sehr oft zu einer Frage der Ethnie oder der Religion erklärt. Dass zum Beispiel Kinder mit Migrationshintergrund einen schlechteren Bildungserfolg haben, liegt vor allem an sozialen Gründen. Die Kinder von UN-Diplomaten, die formell auch Migranten sind, haben selten schlechtere Schulabschlüsse als österreichische Kinder. In Österreich kommen türkische Kinder vor allem aus den Gastarbeiter-Familien, die man in den 1960er Jahren angeworben hat. Das waren niedrig qualifizierte Arbeitskräfte. Weil in Österreich Bildung sehr stark vererbt wird, sind viele dieser Gastarbeiter-Kinder auch in zweiter oder dritter Generation noch immer niedrig qualifiziert. Das hat recht wenig mit der türkischen Herkunft oder dem islamischen Glauben zu tun.
Spaltung und Ausgrenzung sind schlecht für die ganze Gesellschaft. Wenn das Wir größer und inklusiver wird, profitieren alle, schreiben Sie. Wie kann man sich das vorstellen?
Das ist empirisch mittlerweile gut belegt: Je weniger ungleich eine Gesellschaft ist, umso besser und gesünder sind diese Gesellschaften für alle. Was Sicherheit und Kriminalität betrifft, die Gesundheit und die Lebensqualität.
Aus den USA gibt es eindringliche Beispiele aus den 1950er Jahren, der Zeit der Segregation. Als die Ausgrenzung der Schwarzen abgeschafft wurde, schlossen viele Städte ihre öffentlichen Parks und Schwimmbäder. Sie wollten lieber allen den Zugang verwehren, als auch die Schwarzen reinzulassen. Bis heute sind viele dieser Anlagen geschlossen, ganze Zoos und Freizeitparks sind bis heute nicht wieder eröffnet worden. Da sieht man besonders deutlich, wie irrational Rassismus ist und dass er Nachteile für alle bringt.
Wir sollen unsere Privilegien als weiße Österreicher reflektieren, heißt es im Buch. Darüber nachdenken, was anderen vorenthalten wird, weil sie keine Staatsbürgerschaft oder eine andere Hautfarbe haben. Aber ist Privileg der richtige Begriff für den Zugang zu hochwertiger Gesundheitsversorgung oder Bildung? Ist ein Privileg nicht ein unlauteres Vorrecht, das man ausschließlich auf Kosten anderer genießen kann?
Dass der Begriff für beides verwendet wird, ist schwierig. Für die absoluten Grundrechte, die allen zustehen, und gleichzeitig noch für das bisschen Extra. Die Unschärfe ist sicher da. Die Gleichsetzung von Privilegien mit Grund- und Freiheitsrechten ist problematisch.
Gleichzeitig muss man sich schon den Zugang zu Grund- und Freiheitsrechten anschauen. Das Recht auf Asyl wird zwar in ganz Europa hochgehalten, aber gleichzeitig tun die EU und viele ihrer Mitgliedsländer alles, damit niemand Zugang zu diesem Recht hat. Das klassische “Asylparadox”, wie wir es in der Forschung bezeichnen.
Ich hätte mir in der Pandemie auch gewünscht, dass uns Privilegien bewusst werden: Viele Dinge, die uns allen in der Pandemie nicht erlaubt sind, waren für manche Menschen davor schon kaum möglich.
In ein Restaurant zu gehen oder ein Kino zu besuchen, das war für manche Menschen auch ohne Corona-Krise sehr selten, weil sie es sich nicht leisten können.
Diese Situation hat sich durch Corona noch verschlechtert. Das Arbeitslosengeld und die Mindestsicherung sind nicht erhöht worden, systemrelevante Berufe werden nicht besser bezahlt.
Unter ArbeiterInnen gibt es kaum mehr Menschen ohne Migrationsbiografie. Aber ihre Interessenvertretungen haben Personen mit Migrationsbiografie leider kaum im Blick. Das hat zur Folge, dass sich viele Menschen von ihnen nicht adressiert fühlen, von der Politik noch weniger. In letzter Instanz kann das eine Ent-Politisierung nach sich ziehen. Auf der anderen Seite werden sie empfänglicher für die Politisierung im Herkunftsland, wie wir immer wieder in den Debatten über Erdogan usw. erleben. Migrantische ArbeiterInnen fühlen sich oft nicht angesprochen und denken nicht: “Der Arbeiter, den du meinst – das bin ja ich”. Für Menschen mit Migrationsbiografie – immerhin ein Viertel der österreichischen Wohnbevölkerung – ein besseres Angebot zu schaffen, erachte ich als zentral. Wenn wir das schaffen, können wir wegkommen von dieser Defizitdebatte über Migration.
Am Anfang des Buches steht eine bildhafte Beschreibung von Margaret Mead: Zivilisation ist, wenn man einen Knochenbruch überlebt, weil sich jemand anderer um einen kümmert, bis man sich wieder selbst versorgen kann. Kümmern wir uns gut genug umeinander in dieser Ausnahmesituation? Oder anders gefragt: Wie zivilisiert verhalten wir uns?
Wenn ich nach Moria blicke, sind wir nicht zivilisiert. Wir erkennen gerade an Moria nicht, wie gefährlich unsere Haltung auch für unsere eigenen Grund- und Freiheitsrechte ist.
Historisch waren die Rechte von besonders marginalisierten Gruppen immer das Einfallstor für den Abbau der Rechte von allen anderen.
Dass wir in dieser Debatte so überhaupt nicht zivilisiert sind, ist nur deshalb möglich, weil wir die Menschen dort komplett entmenschlichen und zu Anderen machen.
Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Identitäts- und Repräsentationspolitik. Sie forscht zu Fluchtmigration, Integration und gesellschaftlicher Teilhabe. Einer ihrer Schwerpunkte bilden Integrationswege geflüchteter Frauen und die psychosoziale Gesundheit von syrischen, irakischen und afghanischen Geflüchteten in Österreich. Im Rahmen der Studie Displaced Persons in Austria Survey erfasste sie erstmalig in Europa Kenntnisse, Verhaltensweisen und Wertvorstellungen von Geflüchteten. Kohlenberger lehrt an der Universität Wien, der Wirtschaftsuniversität Wien und der FH Wien.
Wenn aber Österreicher heimlich feiern, verschweigt das die rechtspopulistische Lügenpresse. Ich will sehen, wie Österreich zusammenbricht, wenn alle Flüchtlinge als Systemerhalter über Nacht in ihre Heimat zurückkehren. Ich will die weinenden und bettelnden Gesichter der FPÖVP sehen!