Die britische Ökonomin Kate Raworth will die Zerstörung unseres Planeten stoppen und die menschlichen Bedürfnisse ins Zentrum der Wirtschaft stellen. Dazu hat sie das “Donut”-Wirtschaftsmodell entwickelt. Im November erhielt sie den Kurt-Rothschild-Preis für Wirtschaftspublizistik vom Karl-Renner-Institut und dem SPÖ-Parlamentsklub. Kontrast hat die Ökonomin zum Interview getroffen.
Kontrast: Was sind die größten Probleme unseres Wirtschaftssystems?
Kate Raworth: Wir stehen am Anfang des 21. Jahrhunderts, aber wir greifen auf völlig veraltete ökonomische Ideen aus dem 19. Jahrhundert zurück. Konzernchefs, Parlamentarier und Journalisten – sie alle reden über unsere Wirtschaft in Theorien aus den 1850er Jahren. Aber wir sind jetzt im 21. Jahrhundert und wir sind mit ernsthaften Problemen konfrontiert: Mit dem Klimawandel, der enormen sozialen Ungleichheit und der Begrenztheit unserer natürlichen Ressourcen. Und darauf bieten die Theorien aus dem 19. Jahrhundert keine Antwort.
Denn die gehen so: Die Wirtschaft ist nur erfolgreich, wenn wir immer weiter wachsen. Für die allermeisten Politiker ist Fortschritt das gleiche wie Wachstum. Aber wir müssen aus diesem Wachstums-Dogma ausbrechen. Menschlicher Fortschritt lässt sich nicht im BIP-Wachstum messen. Wir müssen Fortschritt anhand folgender Fragen definieren:
Was ist für das menschliche Wohlergehen wichtig? Was sind die langfristigen Ziele der Menschheit? Was sind die natürlichen Grenzen? Daran müssen wir unsere ökonomischen Theorien und unseren wirtschaftlichen Erfolg messen.
Ökonomisches Wachstum muss an Bedeutung verlieren, denn in der Natur wächst nichts für immer. In der Natur wachsen die Dinge zuerst, dann sind sie ausgewachsen und reif – und dann gedeihen sie. Für mich ist die wichtigste ökonomische Frage unserer Zeit: Wie können wir die Wirtschaft so gestalten, dass Branchen und Unternehmen nur wachsen müssen, bis sie ausgewachsen sind.
Kontrast: Was ist das Problem am Wachstums-Dogma?
Raworth: Beim Wachstum geht es nur um Geld und Märkte, aber es gibt viele wichtige Dinge, die keinen Preis haben. Was keinen Preis hat, fällt aber aktuell aus der Wirtschaftswissenschaft heraus. Alles was außerhalb des Marktes passiert, nennen Ökonomen “externe Effekte”. Wenn wir über den Zusammenbruch unseres Klimas und des Ökosystems sprechen, dann sind das in ökonomischen Begriffen “externe Effekte”, die Ökonomen eigentlich nicht interessieren.
Da müssen doch die Alarmglocken schrillen: Wir reden über den Untergang unserer Lebenswelt und wir sprechen darüber als etwas, das außerhalb der Ökonomie passiert. Das heißt, unsere Wirtschaftstheorien haben keine Antworten auf die größten Probleme unserer Zeit.
In den letzten zehn Jahren gibt es Massenproteste gegen die große soziale Ungleichheit, gegen die Dominanz der Wall Street und gegen die Klimakrise – die Antwort auf all das kann nicht nur „Wachstum“ sein.
Ich schlage statt der Wachstums-Ökonmie daher eine Donut-Ökonomie vor. Im Loch in der Mitte sind Menschen, deren Bedürfnisse nicht erfüllt sind: Sie hungern, haben kein sauberes Wasser, kein sicheres Zuhause, keine Gesundheitsversorgung oder keine gute Bildung. Das oberste Ziel einer Wirtschaft muss sein, alle Menschen aus diesem Loch zu holen. Das Loch legt also unsere wirtschaftlichen Ziele fest: Jeder soll genug Essen, sauberes Wasser, ein Dach über dem Kopf und Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung haben.
Der Kreis um dieses Loch ist unsere Wirtschaft mit den Beschäftigten, den Konsumenten und den begrenzten Ressourcen unseres Planeten. Der äußere Kreis des Donuts steht für unsere ökologischen Grenzen: Klimawandel, Umweltverschmutzung, Artensterben.
So sollte die Formel für den Fortschritt aussehen: Die Bedürfnisse der Menschen im Auge behalten und das Wohlergehen aller als langfristiges Ziel sehen. Das kann aber nur innerhalb der Grenzen der Natur erfolgen, hier müssen wir die Balance finden.
Wir können 10 Mrd. Menschen ernähren, ohne eine Klimakrise zu verursachen, wenn wir es wollen und in Innovation investieren.
Kontrast: Was können wir machen, um den Klimawandel zu stoppen?
Raworth: Zuerst müssen wir aufhören, fossile Brennstoffe zu verwenden und CO2 in die Atmosphäre zu schießen. Das ist simpel. Dann müssen wir die Treibhausgase, die schon draußen sind, aus der Atmosphäre in den Boden bekommen. Dafür gibt es eine geniale Technologie: Bäume. Wir müssen auf der ganzen Welt Bäume pflanzen und das Genie der Natur nutzen.
Und wenn wir aufgehört haben, fossile Brennstoffe zu nutzen, müssen wir auf erneuerbare Energie setzen. Die ist viel demokratischer und besser verteilt als Erdöl oder Kohle: Die Energie des 20. Jahrhunderst wurde auf gigantischen Ölplattformen oder in riesigen Kohle-Mienen erzeugt. Die Produktion der Energie und auch das Vermögen aus dem Verkauf der Energiequellen war bei sehr wenigen konzentriert. Die Energie des 21. Jahrhunderst ist besser verteilt: Solaranlagen kann es auf jedem Haus und auf jeder Schule geben. Jede Gemeinde kann mit Windrädern Strom erzeugen.
Wir können die Stormerzeugung endlich demokratisch gestalten und verteilen. Wenn Solaranlagen und Windräder auf der ganzen Welt verteilt sind, ändert sich die Art der Energieerzeugung und das damit verbundene Vermögen radikal.
Kontrast: Welche Länder sind die Vorbild beim Klimawandel?
Raworth: Finnland will bis 2035 keinen Kohlenstoff mehr nutzen, Neuseeland will bis 2050 CO2 neutral sein. Aber selbst das ist alles zu wenig. Weil alle Wissenschaftler sagen: Der Klimawandel trifft uns härter und schneller als alle Modelle vorhergesagt haben. Die Regierungen müssen der Wissenschaft folgen und schneller handeln als uns die Modelle sagen. Die Regierungschefs müssen endlich Führungsstärke beweisen und großem Stil in erneuerbare Energien investieren. Das schafft viele Jobs und Innovation.
Die wirklichen Vorbilder sind aber weniger ganze Länder, sondern Städte. Die nationalen Regierungen stecken seit 25 Jahren fest und machen viel zu wenig. Das hat Städte und Gemeinden dazu gebracht, aufzustehen und zu sagen: Wir handeln jetzt! Zum Beispiel Amsterdam will ab 2030 keine schmutzige Energie mehr verwenden, bis 2050 wird sich Amsterdam komplett aus eneuerbarer Energie aus der Region versorgen.
Über 100 Städte der Welt erzeugen schon heute 70 Prozent ihrer Energie aus erneuerbaren Quellen.
Mittlerweile sind die Kosten von schmutziger Energie für viele Länder viel höher als die Investitionen in erneuerbarer Energie. Das ist auch ein Durchbruch in der Preisgestaltung: Man muss jetzt dem Markt folgen und auf erneuerbare Energie setzen.
Kontrast: In der Diskussion um den Klimawandel geht es oft um individuelles Verhalten: Keine Plastiksäcke verwenden, kein Fleisch essen oder nicht fliegen? Reicht das aus?
Raworth: Der Grund, warum individuelle Handlungen im Zentrum stehen, ist ganz einfach: Die Leute wollen etwas machen, sie wollen handeln. Sie sehen den Regierungen seit 25 Jahren dabei zu, wie sie nichts gegen den Klimawandel unternehmen und wollen zumindest in ihrem kleinen Handlungsspielraum etwas ändern. Sie wollen im Einklang mit ihren Werten leben. Sie fliegen nicht, essen kein Fleisch oder verzichten auf ein Auto. Und das ist wichtig, denn wir müssen auch die Art und Weise ändern, wie wir leben.
Die Bewegungen einiger Leute können sehr helfen, dass andere sagen: „Ich probier das auch!“. Wir sind sehr soziale Wesen, wir sind stark beeinflusst durch das, was andere Menschen machen. Die ersten Menschen, die ohne Auto leben, inspieren andere und man gründet Fahrgemeinschaften. Früher war es eigenartig Vegetarier zu sein, heute gibt es viele vegetarische Restaurants und Angebote im Supermarkt. Sobald 10 oder 20 Prozent der Menschen einen ökologischen Lebensstil haben, wird es auch für alle Anderen attraktiver, weil schon genügend Angebote da sind.
Aber das reicht natürlich nicht aus: Wir brauchen systematische Veränderungen. Politiker müssen sich um die Transportsysteme kümmern, das kann kein einzelner tun: Es muss Sinn machen, die Straßenbahn oder die Bahn zu nehmen statt das Auto oder das Flugzeug.
Das muss sich auch in den Preisen zeigen: Bahn fahren, kostet der Erde viel weniger als Fliegen. Es sollte auch für die Menschen weniger kosten mit der Bahn zu fahren.
Kontrast: Was müssen progressive Parteien machen? Was müssen wir alle machen?
Raworth: Die progressiven Parteien müssen wirklich progressiv sein und sich auf die richtige Seite der Geschichte stellen: Wir brauchen ein stabiles Klima und wir müssen die Klimakatastrophe verhindern: Das Wissen haben wir, wir müssen ihm nur politisch auch folgen.
Persönlich sage ich immer: Sei kein Optimist, sei kein Pessimist, sei ein Aktivist! Wir müssen handeln, jeder in unserem Bereich. Als CEO, als Politiker, als Konsument oder als Beschäftigter. Ich nehme mit meinen 10-Jährigen Kindern an den Fridays for Future Demos teil. Ich habe mit Extinction Rebellion den Verkehr in London blockiert. Es ist so wichtig, Teil dieser Handlungen zu sein.
In der Schule meiner Kinder hängen Bilder von Ghandi, Martin Luther King oder Emily Pankhurst an der Wand. Diese Figuren waren Rebellen, die wurden gehasst, weil sie alles umgeworfen haben. Das ist Fridays for Future heute, die erschüttern alles.
Und in nur einem Jahr haben sie so viel verändert: Die Demos und Proteste haben unseren moralischen Kompass verschoben. Heute traut sich kaum mehr jemand, die Dringlichkeit der Klimakrise in Frage zu stellen. Wir erwarten von Unternehmen und von der Politik, dass sie den Klimawandel stoppen. Und jeder und jede von uns muss handeln.