Präsident Macron kann sich in seinem eigenen Land kaum mehr blicken lassen und muss Termine absagen. Der Protest gegen die Rentenreform geht weiter – mit teilweise ungewöhnlichen Methoden. Kontrast hat mit dem protestierendem französischen Gewerkschafter Mathieu Pineau gesprochen.
Es dauerte kaum eine Stunde. Die 8 Gewerkschaften kamen am 5. April zu einem Treffen mit Frankreichs Premierministerin Elizabeth Borne zusammen – und machten sich kurz darauf wieder auf den Weg nach draußen. Ihre einzige Forderung, um überhaupt ins Gespräch zu kommen: Die Rücknahme der umstrittenen Rentenreform. Da die Premierministerin sich in diesem Punkt genauso kompromisslos zeigte, verließen die Gewerkschaftsvertreter*innen den Raum bald wieder. Der Ablauf war vorhersehbar – und steht sinnbildlich für die Pattsituation im Land: Niemand will nachgeben.
Und weiter ging es mit den Streiks. Einen Tag nach dem gescheiterten Treffen mit der Premierministerin fanden sich wieder hunderttausende Streikende auf der Straße in ganz Frankreich, um gegen die Rentenreform zu demonstrieren. Es war die elfte Großmobilisierung seit Januar. Der vehemente Protest richtet sich gegen eine Prekarisierung der Renten, gegen soziale Ungerechtigkeit im Allgemeinen, aber auch: Gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre.
413 Mrd Euro in Aufrüstung gesteckt, aber das Geld für die Renten fehlt
Die Wut darüber, die in vielen Nachbarländern mit Unverständnis wahrgenommen wird, erklärt der CGT-Gewerkschafter Mathieu Pineau gegenüber Kontrast so: „Frankreich hat gerade 413 Milliarden Euro in die Aufrüstung gesteckt. Gleichzeitig heißt es: In fünf, sechs Jahren könnten etwa 7 Milliarden Euro für die Renten fehlen.“ Der Gewerkschafter fährt fort: 150 Milliarden öffentlicher Gelder wurden außerdem an die 40 größten Unternehmen gegeben, die ohnehin Rekordüberschüsse gemacht haben. „Und jetzt fordert man von den Franzosen, dass sie den Gürtel enger schnallen und zwei Jahre mehr arbeiten sollen? Weil man jährlich diese 6 oder 7 Milliarden Euro nicht findet? Das ist einfach unakzeptabel“, empört sich Pineau gegenüber Kontrast.
Obwohl der Streik und die Großdemonstrationen seit Januar massiv waren – von Stromdrosselung, über Stilllegung von Industriehäfen, Müllabfuhrstreiks und sich türmenden Abfällen – wurde die Stimmung im Land besonders in der zweiten Märzhälfte explosiv. Premierministerin Élizabeth Borne setzte am 16. März die Rentenreform durch – ohne Parlamentsbefragung, mithilfe des Paragraphen 49-3, der als parlamentarische Brechstange gilt. Das wurde von vielen als zutiefst undemokratisch empfunden.
In Paris gab es in den darauffolgenden Tagen allabendlich unkontrollierbare Spontan-Demonstrationen, in denen verstärkt auch Studierende vertreten waren. Verschiedene Demozüge von jeweils mehreren hunderten Menschen liefen bei Einbruch der Dunkelheit durch die Hauptstadt und zündeten alle paar Meter die Müllberge an, die sich wegen des Streiks am Straßenrand türmten. Nach etwa zwei Wochen ebbte diese Welle an Ausschreitungen wieder ab – der allgemeinen Sympathie für die Bewegung hatte das alles erstaunlicherweise keinen Abbruch getan. In Umfragen gaben 70 Prozent Französ*innen an, dass die Regierung selbst schuld an den Vorfällen sei.
Der Präsident muss mit dem Hubschrauber durchs Land
Der französische Präsident ist dieser Tage entsprechend nervös. Genaugenommen kann er sich im Land aktuell nirgendwo mehr blicken lassen. Zu einem Besuch in Savines le Lac ließ Emmanuel Macron sich mit dem Hubschrauber bringen – denn das Risiko, dass die drei Zufahrtsstraßen blockiert wären und unschöne, demütigende Bilder entstehen könnten, war offensichtlich zu hoch.
Kurz zuvor hatte der 45-Jährige auch einen geplanten Stadionbesuch für ein Fußballspiel abgesagt – und ersparte sich damit tatsächlich das, was in Minute 49:03 passierte: „Macron, démission“ – „Macron, Rücktritt“ riefen die Menschen im Stadion. Der Zeitpunkt – 49:03 – ist eine Anspielung auf den gleichnamigen Paragraphen, der die Durchsetzung der Reform ermöglicht hatte. Sogar dem britischen König wurde der Besuch abgesagt, weil unangenehme Situationen vorprogrammiert waren.
Doch auch im Parlament und sogar in den eigenen Reihen bröckelt dem Präsidenten die Unterstützung weg. Vermutlich wäre so manch anderer unter dem enormen Druck bereits zurückgetreten. Als Abgeordnete am 20. März einen Antrag auf Parlamentsauflösung stellten, scheiterten sie zwar. Allerdings fehlten nur 9 Stimmen – und selbst aus den konservativen Reihen und denen der eigenen Partei hatten einige sich enthalten, statt Macron und Borne den Rücken zu stärken.
Internationale Kritik an exzessiver Gewaltanwendung
Die steigende Angst in der Regierung drückte sich zuletzt auch in unverhältnismäßiger Repression aus. Für großes Aufsehen sorgte etwa der Fall einer 56-jährigen Frau mit dem Vornamen Valérie, die den Präsidenten auf Facebook als „Abfall“ bezeichnet hatte. Polizisten nahmen sie deshalb fest und hielten sie 9 Stunden in Untersuchungshaft. Im Juni wird wegen Beleidigung ein Prozess gegen die Frau stattfinden.
Amnesty International und der Europarat haben sich bereits kritisch über die „exzessive Gewaltanwendung“ durch französische Polizei und Gendarmerie geäußert. Umstritten ist etwa der Einsatz von Tränengasgranaten GM2L, die offiziell als Kriegswaffen gelten. Die Polizei ist verpflichtet, diese Granaten hoch in die Luft zu schießen, damit sie oben explodieren und das Gas dann langsam auf eine Menschenmenge herunterkommt, die sich dann zerstreuen soll. Stattdessen gab es in den letzten Wochen mehrfach Fälle, wo solche Granaten direkt auf Menschen geschossen werden, sodass die Explosion am Körper stattfindet und zu schweren Verletzungen wie einer zerfetzten Hand führt. Ein Demonstrant verlor sein Auge bei Einsatz von Hartgummigeschoss am 23. März. Einem am Boden liegenden 19-Jährigen fuhren Polizisten über das Bein. Auch wurden vielfach Menschen unrechtmäßig eingekesselt und am Demonstrieren gehindert.
An den sogenannten „Streikposten“ gibt es ebenfalls regelmäßig polizeiliche Eingriffe. Wenn Arbeiter*innen zum Beispiel Müllverbrennungsanlagen abriegeln und blockieren, oder Ölraffinerien oder Industriehäfen. Meistens sind Räumungen und Festnahmen durch die Polizei unrechtmäßig, weil das Streikrecht in Frankreich sehr schwer wiegt. In der Normandie konnte etwa eine gerichtliche Unterbindung solcher Räumungen erwirkt werden. Meistens kommen die Arbeiter*innen am Folgetag einer solchen Räumung außerdem wieder zurück und blockieren erneut.
Berufsübergreifende Solidarität bei den Protesten
Gewerkschafter Mathieu Pineau, der in der Region Loire Atlantique lebt und arbeitet, hat solche Räumungen miterlebt und spricht von nie gesehen Verbündeten. „Hier in der Region gibt es eine berufsübergreifende Solidarität zwischen den Streikenden“, erzählt er Kontrast. „Wenn es um die Blockade eines Gas-Terminal geht, sind oft Raffineure, Elektriker und Hafenarbeiter dabei. Bei wiederholten Blockaden eines Öldepots kamen auch Lehrer, Gesundheitspersonal und Eisenbahner. Man ist solidarisch mit anderen streikenden Sektoren“, sagt Pineau. Er selbst hat als leitender Angestellter des Stromunternehmens EDF mit seinen Mitstreiter*innen schon ganze Windparks vom Stromnetz genommen – um den Druck auf die Politik zu erhöhen.
Nun stellt sich die Frage, wie alles weitergeht. Macron scheint es aussitzen zu wollen – doch die Gewerkschaften kündigen ähnliches an. „Die Entschlossenheit ist unglaublich“, sagt Gewerkschafter Mathieu Pineau gegenüber Kontrast. Zuletzt hätten er und seine Frau nur ein halbes Gehalt bekommen, erzählt er. Die Stunden und Tage, an denen man streikt, werden nämlich vom Arbeitgeber abgezogen. „Das tut weh“, sagt er „aber wir wissen ja, warum wir das machen.“ Frankreichweit sind unterdessen über 4 Millionen Euro in den sogenannten Streikkassen zusammengekommen – ein Rekordbetrag. Mit diesen Kassen werden Streikende unterstützt, die die finanziellen Einbußen nicht mehr tragen können.
Die neue CGT-Vorsitzende Sophie Binet sagt angesichts der Entschlossenheit und der vielen Stillstände im Interview mit France Inter: „Es ist heute nicht mehr möglich, dieses Land zu regieren, ohne die Rentenreform zurückzuziehen“
Ob und wie es mit der Protestbewegung weitergeht und ob sie an dem verabschiedeten Gesetz noch etwas ändern können, hängt an verschiedenen Faktoren. Die radikaleren Gewerkschaften drängen auf das Erzeugen eines ernsthaften, wirtschaftlichen Schadens. Das sei das einzige Druckmittel, vor dem die Regierung Macron einknicken müsse.
Zusammenschluss der Gewerkschaften zur Intersyndicale
Zum anderen braucht es die Einigkeit der 8 Gewerkschaften, damit der Streik weiterhin eine wirkliche Massenbewegung bleibt. Obwohl die Gewerkschaften in ihren Ausrichtungen teilweise sehr unterschiedlich sind, haben sie sich seit Januar als „Intersyndicale“ zusammengeschlossen – und dadurch eine besonders breite Mobilisierung erreicht. Die Unterschiede in den strategischen Ansätzen treten jedoch regelmäßig zutage. CGT-Vorsitzende Sophie Binet zeigt sich aber optimistisch: „Seit drei Monaten sagen uns alle: Die Intersyndicale wird zerfallen – und das ist nie passiert!“ Den nächsten großen Mobilisierungstag hat das Bündnis für den 13. April angekündigt – einen Tag, bevor die Rentenreform vom Verfassungsgericht abgenickt werden soll. Die Opposition hofft auf Fehler im Gesetz und ein weiteres Bröckeln.
Ob Macron fallen werde? „Das hoffen wir“, sagt Mathieu Pineau. „Es gibt heute nichts mehr für ihn. Er steht komplett alleine da.“