Emmanuel Macron und die französische Regierung sind mit den größten Streiks in der Geschichte Frankreichs konfrontiert. Auslöser sind drastische Pensionskürzungen und das Vorhaben, Pensionen auf den Finanzmarkt zu bringen. Jetzt ist der Premierminister einen medienwirksamen Kompromiss eingegangen: In einem Punkt will er nachgeben und das Pensionsalter nicht erhöhen. Den Streikenden ist das nicht genug.
In Sachen Marketing hatte die französische Regierung zuletzt schwierige Zeiten. Wie erklärt man, dass im eigenen Land seit mehr als einem Monat alles stillsteht – von der Stromversorgung und Raffinerien bis hin zu Anwaltskanzleien, Krankenhäusern, Schulen und Transportbetrieben? Und was sagt man, wenn noch dazu eine satte Mehrheit der Menschen in Frankreich einen solchen Dauerstreik auch noch gut findet?
Macron wollte Pensionsantritt erhöhen – das ist abgesagt
Seit Anfang Dezember gehen hunderttausende in Frankreich auf die Straße und streiken gegen die geplanten Pensionskürzungen von Emmanuel Macron. Am meisten wird darüber diskutiert, dass das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre angehoben werden soll. Worauf die Nachbarländer zum Teil verwundert den Kopf schütteln – denn bei ihnen ist das Eintrittsalter schon lange weitaus höher.
Und hier setzt auch der neue Vorstoß von Premierminister Édouard Philippe an: Am Samstag erklärte er in einem Schreiben, er sei „bereit, die Maßnahme des neuen Renteneintrittsalters zurückzuziehen.“ Gegebenenfalls. Und vor allem: „vorläufig“. Will heißen: Später kann man noch einmal darauf zurückkommen. Seine französische Formulierung „disposé à“ lässt semantisch auch offen, ob aus der Bereitschaft für diese Vorläufigkeit dann auch ein wirklicher Entschluss folgt.
Macrons Pensionspaket: Kürzungen bei Frauen und Pensionen als Spekulationsobjekt
Das ist ein Teilerfolg für die Gewerkschaften und Streikenden, die seit Anfang Dezember zum Teil komplett auf ihr Gehalt verzichten, um die Reform zu verhindern. Doch die Pensionsreform lässt sich nicht auf das erhöhte Renteneintrittsalter reduzieren. Es geht um viel mehr: Die Regierung Macron will ein Punktesystem einführen, bei dem Frauen und Geringverdienende große Nachteile befürchten. Obwohl es in den nächsten Jahrzehnten mehr Rentner und Rentnerinnen in Frankreich geben wird, soll das Budget für Pensionen gleich bleiben – pro Kopf wird also gekürzt.
Und: Pensionsbeiträge sollen am Kapitalmarkt angelegt werden und würden somit zum Spekulationsobjekt auf den Finanzmärkten. Seit Anfang Dezember fordern Gewerkschaften und Berufsverbände deshalb, dass die Pensionsreform zurückgenommen wird – und zwar als gesamtes Paket.
Philippe hält daran fest, die umstrittene Reform schon Mitte Februar ins Parlament einzubringen. Die einflussreiche Gewerkschaft CGT und andere fordern einen vollständigen Rückzug der Reformpläne.
Die Streiks gehen weiter, bis das Paket vom Tisch ist
Das Schreiben von Premierminister Philippe richtete sich deshalb genau an jene Protestierenden, die nur die Erhöhung des Antrittsalters, aber nicht das gesamte Paket ablehnen: Etwa an Gewerkschaften wie die CFDT, die den Premierminister am Vortag zusammen mit Arbeitgeberverbänden zu Verhandlungen getroffen hat. Dabei ging es vor allem darum, wie die aktuelle Reform finanziert werden soll, aber nicht um Inhalte der Reform.
Gewerkschaften wie die CGT haben diese Verhandlung deshalb von Anfang an abgelehnt. Das Gewerkschaftsbündnis Intersyndicale hat bereits für Dienstag, Mittwoch und Donnerstag zu erneuten Massenstreiks aufgerufen.
Der Kampf um die Rentenreform wird zunehmend zum Schauplatz eines unerbittlichen Kräftemessens. Auf der einen Seite Streikende und Gewerkschaften, die die Arbeit erst wieder aufnehmen wollen, wenn die Pensionsreform vom Tisch ist. Das zehrt an den Kräften und ist finanziell für viele eine große Belastung. Auf der anderen Seite die Regierung Macron, die das Reformpaket von Anfang an für unverhandelbar erklärt hat und sich nun dem längsten Streik der Geschichte Frankreichs gegenübersieht.
Die wirtschaftlichen Schäden für Frankreich werden mit jedem Tag höher, der Druck von der Straße ist groß. Wie lange kann die Regierung das noch aushalten? Beide Seiten scheinen alles zu geben, um nicht voreinander einzuknicken.
Streikende stürmten Rathaus, Polizeigewalt geht weiter
Die Stimmung wird immer aufgeheizter. CGT-GewerkschafterInnen stürmten vergangene Woche das Pariser Gebäude von Blackrock mit Pyrotechnik und lautstarkem Protestgesang: Das Unternehmen soll direkten Einfluss auf den Inhalt der Pensionsreform genommen haben. In Le Havre drangen am Freitag DemonstrantInnen ins Rathaus ein und bedienten sich mit Häppchen und Sekt, der eigentlich für offizielle Gäste des Bürgermeisters vorgesehen war.
Auf der anderen Seite nimmt die ohnehin schon unsägliche Polizeigewalt zu. Bilder gehen im Internet viral: die Polizei prügelt auf Demonstranten ein und schießt mit Gummigeschossen aus nächster Nähe auf einen Mann, die Polizei wirft mit einer Blendgranate in das Fenster einer filmenden Zuschauerin, erneut wird ein Journalist in Gewahrsam genommen, nachdem Polizeikräfte ihn vorher gewürgt, geschlagen und beschimpft haben.
Die vermeintliche Kompromissbereitschaft von Premierminister Édouard Philippe hat PR-technisch vermutlich einige Wirkung erzeugt: Die Regierung zeigt sich medienwirksam einlenkend und verhandlungsfreundlich, die Protestierenden will Philippe als stur darstellen. So will die Regierung eine Beruhigung der Lage erreichen, ohne auf die wesentlichen Teile ihrer Reform zu verzichten. Doch nach einer Beruhigung der Lage sieht es in Frankreich derzeit nicht aus.