Im niederösterreichischen Gramatneusiedl läuft seit fast drei Jahren ein Experiment: Langzeitarbeitslose bekommen Jobs, in vorhandenen Unternehmen oder neu geschaffen. Sie selbst haben finanzielle Sicherheit und fühlen einen neuen Lebensinn – auch die Bewohner:innen profitieren von den vielen gemeinnützigen Projekten, die die Beschäftigten umsetzen. Eine Jobgarantie, die viele postitive Effekte hat und oben drein weniger kostet als die Menschen in ihrer Arbeitslosigkeit und in Schulungen verharren zu lassen. Wie kann das gehen? Der Wirtschaftswissenschaftler Lukas Lehner begleitet mit anderen Forschenden das Experiment und erzählt uns, wie das “MAGMA”-Projekt in Gramatneusiedl funktioniert und wo man schon an Ablegern bastelt.
Im Oktober 2020 startete im niederösterreichischen Gramatneusiedl ein bahnbrechendes Projekt: jede Person, die länger als ein Jahr auf Jobsuche war und damit als langzeitarbeitslos galt, bekam einen Job. Basierend auf Interessen und Fähigkeiten. Ohne Zwang und mit kollektivvertraglichem Lohn. „MAGMA“, nennt sich das Ganze: Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal.
Vorbilder und Debatten zum Thema Jobgarantie gibt es schon seit längerem. In Österreich lief mit der „Aktion 20.000“ ein österreichweites Projekt. Aus den USA schwappen seit Jahren Forderungen nach und Modelle über eine Jobgarantie in den europäischen Raum, erzählt Lukas Lehner. Er ist Ökonom, promoviert an der Oxford University und begleitet das „MAGMA“-Projekt gemeinsam mit anderen Wirtschafts- und Sozialforscher:innen wissenschaftlich. Was aber bisher – so auch in Österreich – fehlt, ist Evidenz, sprich: Datengewissheit. Daten, die zeigen, wie genau sich eine Jobgarantie auf die Betroffenen, auf die Gemeinden, auf die Unternehmen und auf den Staatshaushalt auswirkt. Auch in Österreich fehlen solche Daten: Denn die Aktion 20.000 wurde von der ÖVP-FPÖ-Regierung vorzeitig abgebrochen.
100 Jobs für 100 Langzeitarbeitslose
Das „MAGMA“-Projekt will das nun liefern. Entwickelt wurde die Idee zwischen dem AMS Niederösterreich, konkret dessen ehemaligem Leiter Sven Hergovich, und den Forscher:innen der Oxford University und der Universität Wien. Seit Beginn der Studie haben etwa 100 ehemals Langzeitarbeitslose in Gramatneusiedl einen Job vermittelt bekommen.
Der Ort hat auch historische Bedeutung. Denn vor genau 90 Jahren wurde die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ veröffentlicht. 1933 hatten die Sozialwissenschafter:innen Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld, Hans Zeisel und Lotte Schenk-Danzinger eine Feldstudie in diesem Ortsteil durchgeführt. Sie beobachteten, wie sich die Arbeitslosigkeit auf die Ernährungssituation, auf die Alltagsbewältigung und auf die Psyche auswirkte.
Interview mit dem Oxford-Ökonomen Lukas Lehner über die Jobgarantie in Marienthal
Kontrast.at: Etwa 100 Menschen haben durch die Jobgarantie in Gramatneusiedl eine zweite Chance bekommen. Um welche Jobs handelt es sich denn, die im Rahmen des Projekts geschaffen bzw. vergeben wurden?
Lukas Lehner: Es sind verschiedene Arten von Jobs. Die Mehrheit der Stellen sind im Rahmen eines neu geschaffenen sozialökonomischen Betriebs entstanden. Diese Jobs wurden also direkt geschaffen und haben sich an den Teilnehmer:innen, also ihren Fähigkeiten und Interessen – oder eben auch Einschränkungen orientiert.
Man hat beispielsweise im Bereich öffentlicher Gartenarbeit einen Gemüsegarten angelegt. Jetzt können dort die Bewohner:innen von Gramatneusiedl kostenlos Gemüse ernten. Andere Teilnehmer:innen reparieren Möbel in einer Tischlerei oder begleiten ältere Mitmenschen durch den Tag. Es gibt sogar Jobs, die direkt auf Ideen von Studienteilnehmer:innen zurückgegangen sind. Einer verwirklicht gerade ein Buchprojekt über die Geschichte der Gemeinde, ein anderer hat eine Topothek, ein Online-Archiv- aufgebaut.
Zeitgleich zu diesen neuen Jobs gibt es auch reguläre Stellen, die vom AMS bei Besetzung subventioniert werden, also bei bestehenden Unternehmen. Da geht es um Lohnsubvention. In den ersten 3 Monaten bekommt eine Arbeitgeber 100 % der Lohnkosten ersetzt. In den folgenden Monaten zwei Drittel der Lohnkosten. Das heißt für ein Jahr wird ein großer Teil der Lohnkosten bezahlt, wenn man eine langzeitarbeitslose Person einstellt.
Das Interessante ist: Trotz dieser massiven Lohnsubvention hat die Mehrheit von Langzeitarbeitslosen in Gramatneudsiedel keinen subventionierten Job, sondern einen öffentlich geschaffenen Job. Das deutet darauf hin, dass die Höhe der Lohnkosten nicht der ausschlaggebende Faktor ist, dass arbeitslose Personen keinen Job finden.
Eine Jobgarantie dient auch dazu, Vorurteile gegenüber Langzeitarbeitslosen abzubauen
Was ist denn dann der ausschlaggebende Faktor, warum Langzeitarbeitslose so oft keine Chance bekommen?
Lehner: Stigmatisierung spielt hier bestimmt eine Rolle. Das sehen wir auch daher, dass ein Teil der Personen zuerst einen Job in dem neuen sozialökonomischen Betrieb gefunden haben und erst danach einen Job bei einem regulären Arbeitgeber. Also erst nachdem durch den Job davor das Stigma abgebaut wurde.
Für den größten Teil jener, die keinen subventionierten Job gefunden haben, ist meist ausschlaggebend, dass sie individuelle Einschränkungen mitbringen. Sei es gesundheitlicher Natur, sei es von ihrer Familiensituation her. Eben für diese Menschen ist so etwas wie eine garantierte Beschäftigung dringend und wichtig – denn auf anderem Weg bekommen sie die Chance nicht.
Rein finanziell gesprochen, welche Kosten bringt ein Job in einem derartigen Projekt mit sich?
Lehner: Wir sind an das Experiment herangetreten mit Berechnungen des AMS, was die Kosten des „MAGMA“-Projekts sein werden. Wir haben uns orientiert an den Kosten, die sich für eine durchschnittliche Jobsuchende in Österreich belaufen. Das sind etwa 30.000 Euro pro Jahr. Diese Kosten beinhalten das ausbezahlte Arbeitslosengeld, Schulungen, Beratung, aber auch entgangene Lohnsteuern und Versicherungsbeiträge.
Im Projekt „MAGMA“ belaufen sich die Kosten für ein:e Teilnehmer:in auf etwa 29.000 Euro, sie liegen also knapp darunter. Diese Kosten beinhalten sowohl das Einkommen – den Lohn oder den subventionierten Lohn – gleichzeitig werden davon wieder Lohnsteuer und Versicherungsbeiträge abgezogen, denn die landen ja wieder zurück im Haushalt.
Ebenso inkludiert sind die Overhead-Kosten des Programms, die in etwa ein Drittel ausmachen. Also Kosten die nicht direkt an die Person gehen, sondern die in das Projekt fließen. Sei es die Miete des Arbeitsplatzes oder die Kosten der Arbeitsanleiter:innen – das sind Personen die im Rahmen der Jobgarantie arbeiten, um die Personen zu supervisieren.
Langzeitarbeitslosigkeit kann teurer sein als eine Jobgarantie
Das heißt, es ist für die öffentliche Hand günstiger, einen Arbeitsplatz zu schaffen bzw. zu fördern als jemanden in der Langzeitarbeitslosigkeit zu lassen?
Lehner: Ja, es ist billiger. Wobei ich der Meinung bin, dass sag ich auch gerne dazu, dass solche Kosten-Nutzen-Rechnungen nicht den einzigen Ausschlag geben sollen, ob solche Projekte umgesetzt werden oder nicht. Es geht im Endeffekt ja auch um massive immaterielle Verbesserungen für die Teilnehmenden. Um ihr Selbstwertgefühl, um den Respekt, den man ihnen entgegenbringt, um soziale Sicherheit.
Aufgabe der Politik ist es, zu entscheiden, ob man solche Verbesserungen herbeiführen will oder nicht. Den selbst wenn die Kosten pro Person im Jahr um ein paar Tausend Euro höher wären, sollte der Kostenfaktor – meiner Meinung nach – nicht das entscheidende Argument für oder gegen solche Projekte sein.
Welche Effekte hat eine Jobgarantie wie in Gramatneusiedl auf den Arbeitsmarkt generell? Also auf andere Jobsuchende?
Lehner: Wir haben in unserer Untersuchung auch sogenannte Spillover-Effekte gemessen. Also Effekte auf jene Personengruppen, die nicht Teil des „MAGMA“-Programms sind. Uns hat interessiert: Finden kurzzeitarbeitslose weniger leicht einen Job? Werden bestehende Jobs verdrängt? Tatsächlich haben wir herausgefunden, dass die Arbeitslosigkeit in Gramatneusiedl insgesamt zurückgegangen ist, nicht nur die Langzeitarbeitslosigkeit – denn die haben wir ja auf „0“ reduziert. Soll heißen: Eine Jobgarantie verdrängt keine regulären Jobs.
Könnte man das auf ganz Österreich umlegen – also wenn man eine derartige Jobgarantie aufs ganze Land ausrollen würde?
Lehner: Wir würden in so einem Fall erwarten, dass sich die Arbeitsmarkteffekte ähnlich entwickeln würden. Wiewohl man sagen muss: Man kann ausgehend von deiner Studie in einer Gemeinde keine Allgemeingültigkeit ableiten.
Aus wissenschaftlicher Sicht wäre es sehr sinnvoll, eine schrittweise Ausrollung anzudenken. Man könnte also ein Jobgarantie-Projekt in einer größeren Stadt oder einem Viertel eines Bundeslandes umsetzen und dann dort die Effekte messen und mit einbeziehen.
Was würde denn so eine Jobgarantie kosten, wenn man sie für ganz Österreich umsetzen möchte?
Lehner: Es gibt Kostenschätzungen für ganz Österreich, mehrere sogar.
Laut dem Ökonomen Oliver Picek würde eine Jobgarantie, in Maximalausführung mit 150.000 langzeitarbeitslosen Teilnehmer:innen, je nach Bruttogehalt in den Jobs, zwischen 680 Millionen und 1,34 Milliarden Euro kosten.
Resultate: Mehr Selbstwertgefühl, mehr soziale Sicherheit und Respekt durch andere für die geleistete Arbeit
Gehen wir mal etwas weg von den reinen Zahlen und den Kosten und sprechen stattdessen über die Menschen in Gramatneusiedl. Wie hat sich denn das „MAGMA“-Projekt auf die Teilnehmer:innen und die Bewohner:innen selbst ausgewirkt?
Lehner: Tatsächlich hat uns überrascht, wie stark die Auswirkungen auf die Teilnehmer:innen waren. Hier möchte ich auch anmerken, dass keine Person, die ein Jobangebot bekommen hat, dieses abgelehnt hat, zumindest nach der der zweimonatigen Vorbereitungszeit. Das zeigt, dass es den Menschen wirklich ein Bedürfnis ist, zu arbeiten.
Wir haben gesehen, wie positiv sich ein Job auf das Selbstwertgefühl auswirkt. Die Teilnehmer:innen haben einen neuen Sinn an ihrem Leben entdeckt. Ob wir wollen oder nicht, Identitätsfindung passiert in unserer Gesellschaft sehr stark über Arbeit.
Die Menschen waren aktiver, auch in ihrer Freizeit – einfach weil die Tagesstruktur mit Job eine andere war. Das haben schon Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld in ihrer Studie aus den 1930er Jahren nachgewiesen: Bei Arbeit geht es nicht nur um die Arbeit selbst sondern auch sie erfüllt auch andere Funktionen. Die Teilnehmer:innen waren und sind psychosozial stabiler, sind stressresistenter – all das während sie natürlich auch finanziell eine Sicherheit gespürt haben.
Wie haben Bewohner:innen das Projekt – als nicht Teilnehmende – erlebt?
Lehner: Es gab auf Gemeindeebene viele positive Auswirkungen. Der zugängliche Kräuter- und Gemüsegarten, das Renovieren alter Möbel und Renovieren von Wohnungen. Projektteilnehmer:innen haben im Zuge ihrer Arbeit Parkbänke aufgestellt, ältere Mitbürger:innen durch den Tag begleitet, haben im Facility Managmenet von Kindergarten und Volksschule mitgearbeitet, haben dafür gesorgt, dass der Friedhof sauber und von Laub befreit ist. Allesamt positive Effekte.
Das internationale Interesse an Ableger-Projekten ist groß
Was passiert nächstes Jahr, wenn das Projekt planungsmäßig abgeschlossen wird?
Lehner: Das Projekt ist bis April 2024 angesetzt und es ist noch offen ob es vom AMS verlängert wird, ausläuft oder in einer anderen Form umgesetzt wird. Das müssen letztendlich die politischen Entscheidungsträger festlegen.
Wie groß ist das Interesse von Seiten der Bundesregierung und anderer politischer Akteur:innen an eurer Studie?
Lehner: Es gab viel Interesse von internationaler Seite. Wir hatten einen Journalisten vom „New Yorker“ hier, es gab Dokumentationsfilme von „Arte“, „ZDF“ und „ORF“ und auch deutsche Magazine wie der „Spiegel“ oder „Die Zeit“ haben ausführlich berichtet.
Bisher bin ich selbst zudem von Regierungsvertretern aus fünf Ländern kontaktiert worden und habe sie über unsere Ergebnisse und das Design des „MAGMA“-Projekts informiert, weil es auch in anderen Ländern Interesse gibt, ähnliche Projekte umzusetzen.
Erst unlängst durfte ich in Brüssel im Europäischen Parlament die Studie präsentieren und der EU-Kommissar Nicolas Schmidt hat angekündigt, etwa 23 Millionen Euro für Ablegermodelle des Projekts in EU-Mitgliedsländern bereitzustellen.
Zuletzt hat der UN-Sonderberichterstatter für Armut seinen jährlichen Bericht über das Thema Jobgarantien geschrieben und beim UN Menschenrechtsrat präsentiert.
Mehr Druck auf Arbeitslose verbessert für niemanden die Situation – und schafft keine neuen Jobs
Und in Österreich? Wie sieht es da mit dem Interesse aus?
Lehner: In Österreich gibt es sehr viel Interesse seitens des AMS und auch im Arbeit- und Wirtschaftsministerium habe ich die Studie präsentiert. Ob das Projekt verlängert oder ausgeweitet wird, obliegt den politischen Entscheidungsträger:innen. Wir sind im Austausch und finden, dass es sinnvoll wäre, natürlich im größeren Kontext ähnliche Evaluierungen durchzuführen.
Was müsste man dabei beachten?
Lehner: Damit sich die Effekte, wie wir sie gemessen haben einstellen, müsste man die Kernelemente der Jobgarantie beibehalten.
Welche sind das?
Lehner: Da ist zum einen die Freiwilligkeit – die Jobs sollen ein Angebot sein, kein Zwang. Es soll keinen Druck geben, einen Job anzunehmen. Dann wäre da noch der angemessene Lohn – mitsamt den Pensionsansprüchen etc.. Wir haben uns da an die kollektivvertraglich festgelegten Löhne gehalten. Und zuletzt die Sinnhaftigkeit der Arbeit. Die Jobs sollen sich an den Fähigkeiten der Teilnehmer:innen orientieren, einen Nutzen für die Gesellschaft haben und damit zu sozialer Anerkennung führen.
In Österreich scheint die Tendenz weniger in Richtung Erleichterungen als in Richtung Erschwernisse für Jobsuchende zu geben. Denn die sollen ja jetzt intensiver „beobachtet“ werden – also: Man will kontrollieren, ob sich Jobsuchende genug bemühen und Bewerbungen schreiben.
Lehner: Interessanterweise gibt es dazu eine neue Studie in der Fachzeitschrift „Journal of Public Economics“. Die zeigt, dass intensiveres „Job Search Monitoring“ negative Effekte auf Arbeitslose hat. Das dies eher dazu führt, dass sich Personen nicht als arbeitslos registrieren – als dass es dazu führt, dass sie eher Jobs finden. Vor allem für Menschen mit Behinderungen ist das eine weitere Hürde. Mehr Druck hilft den Menschen nicht weiter.
Zum Weiterlesen
Kasy, M., & Lehner, L. (2023). Employing the unemployed of Marienthal: Evaluation of a guaranteed job program.