Bildung

Unsere Töchter brauchen Gute-Nacht-Geschichten, die sie aufwecken

Nur wenige Kinder finden in den Kinderbüchern ihre Wirklichkeit wieder. Es sind noch immer wilde Buben, hübsche Prinzessinen und klassische Vater-Mutter-Kind Familien, die Kinderbücher dominieren. Nur wenige brechen mit typischen Klischees und das tut dem Selbstbewusstsein und Lesespaß der Kinder nicht gut. Wir haben mit zwei Büchhändlerinnen und einer Volkschullehrerin vom Kinderbuch-Blog buuu.ch darüber gesprochen, warum vielfältige Darstellungen von Mädchen und Buben und unterschiedliche Lebensentwürfe in Büchern den Kindern gut tun würden.

Kontrast: Wie steht es um die Geschlechtergerechtigkeit in Kinderbüchern?

Carla: Es ist es immer noch so, dass der Großteil der neu erscheinenden Kinderbücher veraltete Rollenbilder transportiert. Aber das Problem beginnt schon früher. Es gibt nicht nur zu wenig starke Frauenfiguren, es gibt überhaupt zu wenige Frauen und Mädchen in Kinderbüchern.

Die Macherinnen der „Good Night Stories For Rebel Girls“ haben ein Experiment gemacht: Sie haben die „100 besten Kinderbücher aller Zeiten“ des Time Magazine genommen und aussortiert: Zuerst kommen alle Bücher weg, in denen keine Frauen vorkommen. Dann entfernten sie alle, in denen Frauen nicht sprechen und dann noch alle Prinzessinnengeschichten. Das Experiment kann man auch super zu Hause am eigenen Kinderbuchregal ausprobieren. Übrig bleiben meist nur sehr wenige.

Wir von buuu.ch haben uns damals etwas Ähnliches überlegt und als Instrument den sogenannten „Bechdel-Test“, der eigentlich für Filme gedacht ist, auf Kinderbücher angewendet. Der fragt: Kommen mehr als zwei weibliche Personen vor, die auch einen Namen haben? Sprechen sie über etwas anderes als einen Mann? Und herauskam, dass nicht besonders viele Bücher die Punkte des Bechdel-Tests erfüllen. Und wenn sie es doch tun, sagt das immer noch nicht sehr viel über den Inhalt des Buchs aus. Also welche Rollenbilder darüber hinaus transportiert werden. Während der Kinderbuchmarkt riesig ist, ist der Anteil an guten Kinderbüchern sehr klein.

INFO: DER BECHDEL-TEST
 Die amerikanische Cartoon-Zeichnerin und Autorin Alison Bechdel ist Erfinderin und Namesgeberin des Tests. Der Bechdel-Test ist zur Analyse von Filmen da. Mit dem Test wird aber nicht die filmische Qualität beurteilt. Er bewertet die Rollen der Frauen in Spielfilmen an Hand von 3 Fragen:
  • Gibt es mindestens zwei Frauenrollen?
  • Sprechen diese miteinander?
  • Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann?

Paula, du bist auch Buchhändlerin in der feministischen Buchhandlung ChickLit. Welche Beobachtungen im Hinblick auf Rollenbilder in Kinderbüchern hast du in den letzten Jahren gemacht?

Paula: In 70ern und 80ern hat es einige AutorInnen gegeben, die tolle und fortschrittliche Kinderbücher abseits von Geschlechterstereotypen geschrieben haben. Zum Beispiel Mira Lobe und Christine Nöstlinger. In den 90er Jahren gab es dann einen großen Einbruch am Buchmarkt, einen Backlash sozusagen. Es erschienen nur mehr Bücher, die in der Rosa-Hellblau-Falle feststecken. Bücher für Buben und Bücher für Mädchen und in denen dominierten klassische Rollenbilder.

Anfangs, als wir die Buchhandlung eröffneten, das war 2011, war es schwierig richtig gute Bücher zu finden. In den letzten Jahren hat sich aber total viel getan. Auch größere Verlage bringen neben „den üblichen“ Büchern, immer wieder progressive Werke heraus. Zu beobachten ist aber, dass diese in kleinerer Auflage erscheinen und oft nicht nachproduziert werden.

PAULA EMPFIEHLT…

Cover des Buches "The Hate U Give"Sehr beeindruckt hat mich das Jugendbuch „The Hate U Give“, in der eine 16jährige Schwarze Amerikanerin im Mittelpunkt steht. Ihr unbewaffneter Freund wurde von PolizistInnen ermordet. Das Buch ist stark, es macht wütend und traurig und es macht Mut, für alle jene zu kämpfen und mit ihnen solidarisch zu sein, die von rassistischer Gewalt tagtäglich betroffen sind.

Inwiefern prägen Kinderbücher die Vorstellungen der Kinder von Familie, Gesellschaft, Zusammenleben und Diversität?

Carla: Natürlich beeinflussen die einseitige Darstellungen von Geschlechterrollen und von der klassischen Zweielternfamilie das Weltbild der LeserInnen. Dasselbe gilt für das Fehlen von Kindern mit anderer Hautfarbe oder behinderten Kindern. Sie werden oft maximal durch ihr „Anderssein“ definiert werden.

Kinder identifizieren sich ja gerne mit den handelnden Figuren in Büchern. Deswegen ist die Darstellung von vielfältigen Charakteren so wichtig: Buben und Mädchen können davon nur profitieren. Sie sollen verschiedene Rollenbilder kennenlernen und sich in diese hineinfühlen dürfen. Das wirkt sich in weiterer Folge positiv auf ihr Selbstverständnis und -bewusstsein aus.

Welche Bücher lest ihr besonders gerne vor?

Viki: Ich mag Bücher, die aus der Rolle fallen. Neben dem Gendersaspekt und Diversität ist mir auch die Lebensrealität der Kinder in Büchern wichtig. Nicht alle Kinder wachsen in einem beschaulichen Haus auf und haben wohlhabende Eltern. In den 80ern gab es Bücher über Kinder, die in Baumhäusern leben, oder der Klassiker: Pippi Langstrumpf. Solche Settings finde ich auch spannend.

Paula: Ich finde Bücher über starke Mädchen sehr wichtig. Das Thema sollte trotz aller anderen progressiven Entwicklungen nicht in den Hintergrund gedrängt werden. Es ist immer noch höchst relevant.

Auch Bücher, die sich mit Themen wie Antirassismus, Ausgrenzung und Akeptanz kindgerecht auseinandersetzen, finde ich ganz wichtig.

Und nicht zu vergessen: Bücher für ganz kleine Kinder. Auch bei den simpelsten Bildwörterbüchern werden schon Stereotype abgebildet. Da gibt es zum Glück mittlerweile einige Neuerscheinungen von Pappbilderbüchern, die schön anzuschauen sind und Vielfalt zeigen.

Carla: Auch Buben brauchen Role Models. Männliche Protagonisten, die Gefühle zeigen, liebevoll und sensibel sind und nicht Frauen und Mädchen permanent die Welt erklären.

Ich mag Bücher, in denen die Klassengemeinschaft und der Freundeskreis meines Kindes repräsentiert wird. Da gibt es Kinder mit unterschiedlichen Hautfarben und kulturellen Backgrounds, behinderte Kinder, Kinder von alleinerziehenden Müttern, von getrennten und von hetero- und homosexuellen Eltern. Von genau den Kindern möchte ich lesen.

VIKI EMPFIEHLT…

Cover des Buches "Zusammen!"Sowohl ich als auch mein Kind sind sehr begeistert von „Zusammen!“ von Daniela Kulot. Ein total liebes Pappbilderbuch, in dem es um Freundschaft, Solidarität und Abenteuer geht. Egal ob dick oder dünn, mutig oder feige, dunkel oder hell, traurig oder froh – jedeR muss aufs Klo und ein lustiger Reim passt (meist) für jede Situation.

Unterschiedliche Launen, Körper und auch ein Kind im Rollstuhl kommen vor und vermitteln in wenigen Worten die Message – gemeinsam mit anderen ist es reichlich wurscht, wie, wer oder was du bist.

Was ist eure Motivation, eure Bücherfunde auf buuu.ch zu teilen?

Viki: Es gibt eine große Bandbreite von Kinderbüchern und einen riesigen Markt und vielen ist es zu mühsam, sich durchzuwühlen, um wirklich Gute zu finden und einen Überblick zu behalten. Mein Anliegen ist es, gute, originelle Kinderbücher auf dieser Plattform zu sammeln und sichtbar zu machen, auch welche, die im Handel nicht mehr erhältlich sind.

Carla: Die positive Resonanz auf unseren Blog zeigt, dass er dringend notwendig ist. Gerade im deutschsprachigen Raum gibt es wenig aktuelle Sammlungen zu progressiver Kinderliteratur, also Bücher mit einem feministischen Anspruch, wo auf auch Inklusion und Diversität geachtet wird.

CARLA EMPFIEHLT…

Cover von "Ich so, du so. Alles supernormal."„Ich so du so. Alles super normal“ ist ein abgefahrenes Sach-, Mitmach,- und Nachdenkbuch zum Thema Normalität. Die HerausgeberInnen nähern sich witzig und unaufgeregt dem Thema an und schnell bemerkt man: Normalität ist eine Frage der Perspektive!

Zum anderen hat mir zuletzt das klischeefreie und wunderschöne Bilderbuch „Kalle und Elsa“ total gut gefallen. Es ist eine schöne, phantastische Alltagsgeschichte und kommt absolut ohne Stereotype aus.

 

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Mehr Tipps zu diversen Kinderbüchern gibt es auf buuu.ch

A Mighty Girl (Englisch)

Buchempfehlungen (Pinkstinks)

Bücherliste für unterschiedliche Lebensrealitäten – Kinderbücher in intersektionaler Praxis (Heinrich Böll Stiftung)

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Obwohl der Kurz ein Kasperl ist,
Obwohl der Kurz ein Kasperl ist,
19. März 2018 16:53

muss ich gegen diese Art der Aufklärung in Richtung Jugend intervenieren: besser ignorieren lernen. Und wenn sie alt genug sind, wie man Schmutz rechtskonform beseitigt. Dazu muss man aber nicht bezüglich des Kasperls aufklären, dafür statt Leibesübungen und dieser verfälschten Geschichte, mit der so mancher sein Geld verdient, VWL schon in der Vorschule lehren. Aber nicht von Bankster-VWLern und Prolitikster-VWLern, sondern von Flassbeckmachart-VWLern.

Katrin
Katrin
9. März 2018 02:06

Sehr beeindruckt hat mich das Jugendbuch „The Hate U Give“, in der eine 16jährige Schwarze Amerikanerin im Mittelpunkt steht. Ihr unbewaffneter Freund wurde von PolizistInnen ermordet. Das Buch ist stark, es macht wütend und traurig und es macht Mut, für alle jene zu kämpfen und mit ihnen solidarisch zu sein, die von rassistischer Gewalt tagtäglich betroffen sind.

Ich weiß nicht, ob diese Rechnung aufgeht: könnte zu Gegen-Hass führen. Dann haben wir das, was unsere asoziale Reg. täglich unter die Menschen bringt!

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