Österreichs Impfstrategie läuft schleppend. Beim Beschaffen von Impfdosen hat man offenbar nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Das könnte man so eingestehen und an einer Lösung arbeiten – Kurz beschuldigt stattdessen angebliche EU-Geheimverträge und eigene Beamte, die ihn nicht ausreichend informiert hätten. Nun stellt sich heraus: Kurz war über alles bestens informiert. Er will es nur nicht zugeben. Jetzt ist es für ihn oberste Priorität, sein Image zu retten.
„Der Befund ist sehr einfach: Die Impfsache läuft furchtbar schief“, fasst Politikwissenschafter Peter Filzmaier zusammen. Das Ausrollen der Impf-Aktion in den Bundesländern ist schleppend, Lieferprobleme sowohl bei Biontech/Pfizer als auch bei AstraZeneca haben nationale Impfpläne durcheinander geworfen.
In Österreich überlagern sich die Probleme: Ein verzögerter Impfstart, fehlende zentrale Strukturen und verunsicherte Hausärzte, die nicht genügend informiert wurden, an wen sie wie Impfungen verabreichen können. Bei der Impfquote fallen wir hinter unsere Nachbarländer zurück. Mitte März sind weniger als 4 Prozent der Bevölkerung voll immunisiert.
„Man muss kein Mathematiker sein, um sich auszurechnen, dass beim jetzigen Impftempo schon alle im Frühjahr oder Sommer durchgeimpft sind – allerdings nicht heuer, sondern nächstes Jahr. Und wenn dann noch notwendige Auffrischungen durch Mutationen dazukommen, dann kann auch 2023, das folgende Jahr oder der St. Nimmerleinstag daraus werden“, prognostiziert Filzmaier in der ZIB 2.
Verantwortlich für das Chaos ist das Corona-Management der gesamten Bundesregierung mit Kanzler Kurz an der Spitze. Der aber will weder Fehler eingestehen noch Probleme lösen, sondern offenbar einzig sein Image retten: Österreich sei bei der Impfstoff-Verteilung gemein benachteiligt worden, meint der Kanzler. Er höchstpersönlich hat diese Machenschaften aufgedeckt, die hinter seinem Rücken stattgefunden haben! Kurz verkauft als Aufreger, was keiner ist.
Fakt ist: Wie die Beschaffung ablief und dass andere EU-Länder auch abseits der Verteilung nach Bevölkerungsschlüssel Impfdosen anschafften – über all das weiß Sebastian Kurz Bescheid. Und das seit Monaten.
Mehrmals Thema im Ministerrat: Kurz wusste über Impfstoff-Verteilung Bescheid
Die Impfstoff-Beschaffung und das Vorgehen anderer EU-Länder waren im Ministerrat, den Sitzungen der Regierung, immer wieder Thema. Beispielsweise am 19. Jänner 2021. Da informierte Gesundheitsminister Rudolf Anschober darüber, wie andere Länder sich um ihre Impfstoff-Kontingente kümmerten. Protokolle dieser und anderer Sitzungen hat ZackZack veröffentlicht.
Tatsache ist, dass Österreich von sich aus entschieden hat, mehr auf den günstigeren AstraZeneca-Impfstoff zu setzen. Als Resultat nahm man weniger vom Moderna-Impfstoff in Anspruch als möglich gewesen wäre. Dass EU-Länder untereinander nicht benötigte Kontingente weitergeben können, war ebenfalls bekannt – Österreich war ja selbst in Brüssel involviert. Was Kurz vergangene Woche abschätzig als „Basar“ und „geheime Liefervereinbarungen“ bezeichnete, war ein bekanntes, genormtes Prozedere. Zudem gibt es in Österreich seit Jänner sogar einen eigenen Steuerungsausschuss zu Beschaffung und Lieferplänen – alles unter Einbeziehung des Bundeskanzleramts.
Gelegenheiten, zu widersprechen oder sich auf EU-Ebene aktiv für mehr Dosen eines anderen Impfstoff-Herstellers einzusetzen, gab es also genügend.
„Kurz will nicht mitbekommen haben, wie die Verträge aussehen und wie die Gepflogenheiten innerhalb der Europäischen Union sind. Da muss er sich die Frage gefallen lassen: Was hat er bis zum letzten Freitag eigentlich beruflich im Jahr 2021 gemacht?“, fragt Filzmaier.
Impfungen sind „Chefsache“, wenn es Kurz’ Image nützt
Man hätte die Impfbeschaffung gar nicht an Kurz vorbei organisieren können. Immerhin liegen die Finanzagenden bei Parteifreund Gernot Blümel. Dieser legte auch fest, wie viel Geld die Regierung für Impfdosen bereitstellte: Laut Anschober waren das 200 Millionen Euro insgesamt für 2020 und 2021. Damit gab Schwarz-Grün allein im letzten Jahr mehr für Regierungswerbung aus, als für die beiden Krisenjahre für Impfungen veranschlagt wurde.
“Marketing geht vor Substanz, lieber eine PR-Leuchtrakete mehr, als sich an grundsätzlichen Reformen die Zähne auszubeißen, und vor allem Tempo, Tempo, Tempo”, fasst Falter-Redakteurin Barbara Tóth die Prioritäten des Kanzlers zusammen. Er feierte das österreichische Krisenmanagement in der ersten Welle als eines der erfolgreichsten der Welt. Er ließ sich bei Videokonferenzen mit “Corona-smarten” Regierungschefs aus Ländern ablichten, die “ähnlich früh und intensiv wie wir reagiert haben und somit besser durch die Krise gekommen sind“. Die Botschaft ist ebenso klar wie teuer vermarktet: “Österreich kommt besser durch die Krise als die anderen.”
Wann immer es holprig wurde – bei hohen Sterbezahlen in den Pflegeheimen, bei fehlenden Sicherheitskonzepten an den Schulen, bei bahnbrechend hoher Arbeitslosigkeit und schlussendlich bei den höchsten Infektionszahlen der Welt im letzten Winter – lässt Kurz andere Rede und Antwort stehen. Wittert er hingegen ein medienwirksames Thema, macht er es zur “Chefsache”.
Kurz erkannte früh die Impfungen als Image-Retter und hat das Thema immer wieder an sich gezogen. Anfang des Jahres präsentierte er die Impfungen als „Game-Changer“, ließ sich medienwirksam bei der ersten verabreichten Impfung ablichten und verkündete, ab Ende März seien alle über 65 immunisiert.
Derartige Aktionen garantieren lobende Schlagzeilen und Kanzler-Porträts auf den heimischen Titelseiten. Doch sobald klar ist, dass von den Versprechungen nichts übrig bleibt, und der Unmut zunimmt, möchte Kurz nicht mehr mit den Impfungen in Verbindung gebracht werden.
Kurz ist unfehlbar – schuld sind immer die anderen
Es gibt zwei Möglichkeiten, einem Problem wie den schleppenden Impf-Lieferungen zu begegnen.
Möglichkeit 1: Eine Lösung erarbeiten, Fehler eingestehen und verständlich wie transparent kommunizieren, wie man den Fehler beheben wird.
Möglichkeit 2: Der Weg, den Sebastian Kurz wählt. Behaupten, man hat mit Fehlentscheidungen nichts zu tun, hätte sowieso alles anders gemacht und hätte „immer schon gesagt, dass…“ Und einen Schuldigen finden, der unbequeme Fragen beantworten muss. Kurzum: Sich aus der Verantwortung stehlen.
„Es ist kein Zeichen von Souveränität, nicht jeden, aber sehr viele als Totalversager zu bezeichnen – mit Ausnahme von sich selbst. (…) Eine Art politisches ‚Rette-mich-wer-kann’-Programm“, beschreibt es Filzmaier in der ZIB2.
Die Vorgangsweise, die Kurz letzten Freitag gewählt hat, war letztklassig. Er ließ seinem Regierungskollegen, der gerade im Krankenhaus lag, über die Medien ausrichten, dass die europäischen Gesundheitsminister für Beschaffungsprobleme und Ungleichverteilungen verantwortlich seien. Über seine Partei richtete Kurz dem Gesundheitsminister aus, dass er zwei seiner Beamten suspendieren soll.
Ständiges Abputzen nährt Misstrauen in Krisenmanagement
Wenn Politiker vermitteln, sie selbst hätten immer alles richtig gemacht, und nur von anderen Konsequenzen einfordern, richten sie auch demokratiepolitischen Schaden an. Denn so ein Verhalten nährt auch Misstrauen in die Fähigkeit der Politik, Krisen zu bewältigen, erklärt Filzmaier: „Wenn das jeder politische Akteur macht, dann haben wir kein Vertrauensdefizit in der Pandemiebekämpfung, sondern haben ein Vertrauensfiasko.“