Die Westsahara war bis 1975 eine spanische Kolonie und wurde nach Abzug der Spanier zum Großteil von Marokko annektiert, was von den meisten Staaten aber nicht anerkannt wird: Seit 46 Jahren kämpft die dortige Polisario-Bewegung für die Unabhängigkeit von Marokko. Spanien unterstützte bis jetzt die Forderung nach einem Referendum in der Westsahara, stellte sich aber im März 2022 plötzlich auf die Seite der marokkanischen Regierung, die eine Unabhängigkeit verhindern will.
Marokko sträubt sich seit jeher gegen die Unabhängigkeit der Westsahara und strebt nach internationaler Unterstützung für einen Vorschlag aus dem Jahr 2007: Er sieht begrenzte Autonomie durch eine dezentralisierte Regierung in der Westsahara vor, die über Steuererhebungs- und Haushaltsbefugnisse verfügen würde. Die wichtigen Bereiche Außenpolitik, Sicherheit und Verteidigung blieben aber weiterhin bei Marokko.
Der Vorschlag wurde von der politischen Vertretung der sahrauischen Bevölkerung – der Polisario-Front – abgelehnt. Sie fordert die vollständige Unabhängigkeit von Marokko. Im Laufe der letzten 46 Jahre (denn so lange besetzt Marokko das Gebiet der Westsahara bereits) wurden von beiden Seiten im UN-geführten politischen Prozess immer wieder Vorschläge zur Lösung der Situation vorgelegt. Bis jetzt ohne Ergebnis. Das etwa seit Jahrzehnten geforderte UN-Referendum zur Unabhängigkeit der Westsahara wird von Marokko immer wieder verhindert. Die Polisario dagegen treten für eine faire Abstimmung über ihr Land ein.
Der österreichische EU-Delegationsleiter Andreas Schieder kritisiert den Richtungswechsel der Spanier und macht klar: „Die politische Richtungsänderung des spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez ist keine politische Richtungsänderung der Europäischen Union!“
Was führte zum Schwenk in der spanischen Westsahara-Politik?
Ende 2020 erkannte die US-Regierung unter Präsident Donald Trump die marokkanische Souveränität über die Westsahara an. Es war die Gegenleistung für die offizielle Anerkennung Israels durch Marokko. Auch von der Nachfolgeregierung unter Präsident Joe Biden wird der marokkanische Vorschlag als „ernsthaft, glaubwürdig und realistisch“ betrachtet wie Euractive kürzlich berichtet.
Mitte März 2022 unterstützte nun Spaniens Premierminister Pedro Sánchez in einem Brief den marokkanischen Vorschlag. Bis dahin hatte sich Spanien neutral verhalten. Genau wie Algerien war auch Spanien für das UN-Referendum über die Zukunft der Westsahara eingetreten.
Dem Zugeständnis Premier Sánchez folgte eine innerpolitische Diskussion in Spanien selbst und ein Zerwürfnis mit Algerien. Von Algerien ist Spanien aber gerade seit der russischen Invasion der Ukraine sehr abhängig: Nämlich als Erdöllieferant. Algerien berief sofort seinen Botschafter in Madrid ab, die Polisario stoppten ihre diplomatischen Kontakte mit Spanien. Die einzige Lösung in dem Konflikt bestünde in der Unabhängigkeit der Westsahara und dem Erlangen der Souveränität der Sahraui über ihr Land, so Abdulah Arabi, der Leiter der Delegation der Polisario-Front in Madrid.
Der Konflikt zwischen Spanien und Marokko eskalierte
Die Beziehung Spaniens zu Marokko erreichte seinen neuen Tiefpunkt im Mai 2021. Damals erkrankte Brahim Ghali, der Präsident der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) (also der Anführer der politischen Vertretung der Bewohner der Westsahara, der Polisario Front) an Covid. Er wurde in Folge dessen in einem spanischen Spital behandelt. Marokko verstand das als Affront und reagierte prompt, indem es seine Grenzen zu den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla für etwa 10 Tausend Migranten öffnete.
Diese Menschen wurden so von Marokko als „Waffe“ zur Erpressung Spaniens eingesetzt. Hinzu kommt noch, dass sowohl Ceuta als auch Melilla geographisch sensible Gebiete mit einer hohen Wirtschaftstätigkeit in der Region sind. Der marokkanische Besitzanspruch auf diese Gebiete steht seit jeher im Raum. Dieser geopolitische Druck führte wohl zu Spaniens Zugeständnisse an Marokko. Von EU-Abgeordneten wie dem linken Miguel Urbán Crespo hört man allerdings, dass diese Position Spaniens nichts Neues sei. Man habe es nur zuvor nicht öffentlich ausgesprochen.
Spanien wird vom Vermittler zum Problem, Marokko terrorisiert weiterhin die Sahraui
Nach dem Vorfall besuchte Sánchez Marokko, und das Königreich bekräftigte seine Verpflichtung, seine Grenzen zu kontrollieren und keine Ansprüche auf Ceuta und Melilla zu erheben. Mit diesen Kompromissen wird Spanien allerdings vom Vermittler zum Teil des Problems. Marokko in seiner 46 Jahre andauernden Annexion der Westsahara-Gebiete zu bestärken, sehen viele Beobachter als Verrat an Spaniens historischer Verantwortung an den Sahraui.
Der marokkanische Vorschlag wird oft als Möglichkeit für die Westsahara bezeichnet, zuerst eine Autonomie zu erlangen, um dann weiter für die eigene Unabhängigkeit zu kämpfen. Doch niemand würde Marokko bereits jetzt daran hindern, den in Marokko lebenden Sahraui mit Respekt und der Einhaltung der Menschenrechte zu begegnen. Stattdessen werden Aktivist:innen gefoltert, inhaftiert oder verschwinden spurlos. Und Sahraui die in den besetzten Gebieten leben, bekommen – wenn überhaupt – dann nur marokkanische Dokumente.
Marokkanischer Wall in der Westsahara eine der größten aktiv verminten Zonen der Welt
Hinzu kommt: Die Gebiete rund um die von Marokko errichtete Mauer durch die Westsahara zählen zu den am meisten verminten Gebieten weltweit. Minenfunde belegen zudem: Sie wurden nach dem Waffenstillstand weiterhin gelegt. Darauf verweist der Vermerk ihres Entstehungsdatums auf den Minen selbst. Gerade für ein ursprünglich nomadisch lebendes Volk ist diese Situation extrem problematisch und führt zu zahlreichen Opfern, unter ihnen auch Kinder.
Erscheint es also glaubhaft, dass Marokko eine ernsthafte friedliche Lösung herbeiführen will, wie Sánchez zuerkennt? Die menschenrechtliche Situation in den besetzten Gebieten der Westsahara lässt dies bezweifeln. Genauso wie die Verweigerung des UN-Referendums durch Marokko.
Die humanitäre Situation der Flüchtlinge ist katastrophal
Für all jene Sahraui, die nicht in den besetzten Gebieten geblieben sind, war die Alternative das Exil. Die meisten von ihnen flohen über die algerische Grenze nach Tindouf in die Sahara-Wüste. Dort leben sie seit mehr als 46 Jahren als Flüchtlinge unter den härtesten Bedingungen. Keine Wasservorkommen, keine Vegetation, starke Temperaturunterschiede zwischen Morgen und Abend, häufige Sandstürme und alle 4 Jahre eine Sturzflut. Im Vergleich dazu wäre das eigene Land dieser Menschen reich an Rohstoff- und Fisch-Vorkommen, es gibt Wasservorkommen und Anbaumöglichkeiten.
Um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen, reiste vor kurzem eine EU-Delegation in die Lager und wohnte eine Woche lang bei Familien. Sie bestand aus Abgeordneten aus vier unterschiedlichen Fraktionen und drei unterschiedlichen Partei-Fraktionen. Österreich war vertreten von EU-SPÖ-Delegationsleiter Andreas Schieder, dem Vorsitzenden der Westsahara Arbeitsgruppe im EU-Parlament und dem Bad Ischler Hannes Heide.
„Während sich die humanitäre Situation in den Flüchtlingslagern zunehmend verschlechtert, bewegen sich die Lösungsversuche zu wenig. Vor allem fehlt es an internationaler medialer Öffentlichkeit für den Konflikt.“
Andreas Schieder
Neben den offiziellen politischen Terminen mit algerischen Regierungsvertretern und dem Parlament und Präsidenten der Polisario, stand auch der Austausch mit der UN-Flüchtlingshilfe UNHCR, der UN-Westsahara-Mission MINURSO oder dem World Food Programme auf der Agenda. In den Lagern fehlt es an vernünftiger Versorgung, was an fehlender Finanzierung aber auch massivem Mangel an Gesundheitspersonal liegt. Die ohnehin dürftigen Essensrationen können nicht vergeben werden: Von dem was pro Person vorgesehen wäre, kann zurzeit nur die Hälfte des Warenkorbs verteilt werden. Und trotzdem werden die Mittel weiterhin verknappt. Und dabei sprechen wir hier nur von der Grundversorgung: Frische Lebensmittel, Obst und Gemüse, welche für eine ausgewogene Ernährung wichtig wären, sind sowieso kaum vorhanden. Als Folge dessen beginnt die Mangelernährung für die Kinder schon im Mutterleib.
Beeindruckende politische Organisation, basisdemokratisch und feministisch
Nichtsdestotrotz ist es gelungen, zivilgesellschaftliche Strukturen wie eine Exilregierung aufzubauen. Sie sind basisdemokratisch und präzise organisiert, über ein Drittel der Abgeordneten zum sahrauischen Parlament sind außerdem Frauen. So etwa auch Abida Hadia, welche drei Jahre lang in Wien Floridsdorf gelebt und dort eine Ausbildung abgeschlossen hat. Jetzt arbeitet sie im sahrauischen Innenministerium und freute sich beim Besuch der EU-Delegation ihre Deutschkenntnisse wieder verwenden zu können.
Die Sahraui leben offen, nach westlichen Demokratiemaßstäben organisiert, mit Recht auf Meinungsfreiheit und gelebter Gender-Equality. Es gilt öffentlich zu hinterfragen, warum der Unterdrücker Marokko dennoch auf politischen Bühnen hofiert und mit Handelsabkommen belohnt wird. Die “politische Richtungsänderung” des spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez sei “keine politische Richtungsänderung der Europäischen Union” gewesen, bekräftigt dazu Schieder. Auch die EU sollte ein Interesse an einem Ende des Konflikts haben, sagte er mit Verweis auf die Stabilisierung der Region und den Handelsbeziehungen. Ein EU-Gericht hatte zuletzt ein Assoziierungsabkommen mit Marokko wegen ungeklärter Fragen in der Westsahara ausgesetzt. Genau wie bereits in den Urteilen der Jahre 2016 und 2018 wurde somit der Polisario Front Recht gegeben. Gegen das Urteil wurde von den EU-Staatschefs Berufung eingelegt, eine neue Entscheidung vom EuGH wird nun für kommenden Herbst erwartet.