Nach dem Mord an einem 14-Jährigen durch Neonazis wollte die Stadt Kungälv nicht länger zusehen, wie sich Rechtsextremismus verbreitet. Sie holt sich Hilfe und entwickelt das „Toleranz-Projekt“, das sich vor allem an Schüler und Schülerinnen richtet. Sie sollen über Gefühle wie Hass und über ihre Ängste reden können – vor allem mit jenen, gegen die sie gerichtet sind. Das Ergebnis: An Schulhöfen machen Neonazis keinen Meter mehr und das Projekt ist als „Kungälv-Modell“ zum Vorbild in der ganzen Welt geworden.
John Hron ist 14, als er im August 1995 ermordet wird. Er zeltet mit einem Freund, beide werden von Neonazis angegriffen. Sie prügeln auf Johns Kopf ein, werfen ihn in den Fluss neben dem Zelt – er ertrinkt. Hron war Aktivist und ist gegen Rassismus aufgetreten. Nicht nur die Familie, die ganze Stadt ist in Schock. Dabei ist die Neonazi-Szene schon seit Jahren sichtbar.
Die Finanzkrise machte Neonazis stärker
Kungälv ist eine Kleinstadt im Westen Schwedens. 1995 lag die große Finanz- und Bankenkrise Schwedens erst ein Jahr zurück. Das Land und seine Städte sind krisengebeutelt. Geld für Investitionen fehlt, die Konkurrenz am Arbeitsmarkt steigt – und dazu der Hass auf Migranten. Neo-Nazis machen sich breit, auch in Kungälv.
In der 20.000 Einwohner-Stadt punkten sie vor allem an Schulen – und attackieren Menschen, die ins Feindbild passen. John war einer davon.
Eine Stadt wird aktiv gegen Rechtsextremismus
Die Stadt wendet sich nach dem Mord von John Hron an Christer Mattsson. Er ist Lehrer in Kungälv – und unterrichtet an der Universität Göteburg. Er findet: Wenn Rechtsextreme in einer Stadt ihr Unwesen treiben, dann muss die Stadt etwas dagegen tun. Also hat er das „Toleranz-Projekt“ ins Leben gerufen – das mittlerweile als „Kungälv-Modell“ bekannt geworden ist. Das Ziel: Neonazis die Grundlage entziehen. Junge Menschen sollen lernen, mit Ängsten und Hassgefühlen umzugehen und nicht mehr auf rechtsextreme Propaganda hereinzufallen.
Lehrer, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in Kungälv arbeiten zusammen, um junge Menschen aus Neonazi-Kreisen und deren Umfeld anzusprechen. Zusätzlich machen sie örtliche Problem-Gegenden aus, wo Neonazis besonders aktiv sind – sie wollen herausfinden, wo Jugendliche zu Opfern von Gewalt werden könnten.
Seit 2001 halten Mattsson und andere Lehrer Workshops an Schulen – vor allem vor 14- bis 16-Jährigen. Darunter sind auch Mädchen, deren Freunde in der Neonazi-Szene aktiv sind. In den Workshops diskutieren die Jugendlichen über ihr Weltbild, über Gefühle. Und sie sind mit Schulkollegen konfrontiert, die nicht rechts sind oder deren Familien aus anderen Ländern kommen.
Maarten van Zalk hat die Wirkung des „Toleranz-Projekts“ in Kungälv erforscht. Das Diskutieren, das Zuhören, das sich Hineinversetzen hilft, Hassgefühle abzubauen. Denn rechtsextreme Jugendliche haben bald keine Freunde mehr außerhalb der Szene, sie hören keine andere Sicht und kennen die Gefühle der anderen nicht. Das Toleranz-Projekt sorgt aktiv dafür, dass der Kontakt zu anderen Menschen nicht gekappt wird:
„Wenn man Teil einer rassistischen Subkultur ist, ist es unwahrscheinlich, dass man auch mit Kindern aus Migrantenfamilien spricht. Das Toleranz-Projekt ermutigt, diesen Kreis zu durchbrechen.“
„Mich hätte niemand sonst da rausgeholt“
Madeleine war eine der ersten, die an den Workshops teilgenommen hat. Sie hat davor gegen Migranten gepöbelt und war ein Skin-Girl, das Nazi-Symbole in Kungälv gesprüht hat. In der Schule musste sie dann darüber nachdenken, woher eigentlich ihr Hass kommt. Heute ist sie 31, selbst Lehrerin und resümiert:
Lernen über den Holocaust ist Teil des Programms
Die Workshops bauen aufeinander auf und werden über etwa 6 Monate abgehalten. Am Ende des Projekts unternehmen die Schüler eine mehrtägige Fahrt in die Gedenkstätte in Ausschwitz, wie man sie von „Studienfahrten“ z.B. des Vereins „Gedenkdienst“ hierzulande kennt.
Neonazis verschwinden von den Schulhöfen
In den 90er Jahren waren Schulhöfe die Orte, wo Neonazi-Gruppen nach Jugendlichen gesucht haben, die sie rekrutieren konnten. Das ist vorbei. Eine Lehrerin an der Ytterby Schule, die am Projekt teilnimmt, weiß: Es gibt sie noch immer, die überzeugten Rechtsextremen. Sie wohnen noch in der Umgebung. Aber sie lassen die Schule – und die Schüler – in Ruhe. Denn sie machen dort keinen Meter mehr.
Das „Kungälv-Modell“ kostet wenig und bringt viel
Das „Toleranz-Projekt“, mittlerweile als „Kungälv-Modell“ bekannt, ist zum Vorbild geworden. Jährlich nehmen etwa 800 Schüler in 60 Schulen am Projekt teil.
Zudem haben ein Ökonom und eine Verhaltensforscherin ausgerechnet, dass dieses Projekt für eine Stadt viel günstiger ist, als das Rechtsextremismus-Problem zu ignorieren. In ihrer Studie „Der Preis von Intoleranz“ zeigen sie: In einem Zeitraum von 15 Jahren kostet „Wegschauen“ bis zu 27 Millionen Euro. Der Grund: Rechtsextreme Gruppen und andere verüben jährlich in ganz Schweden etwa 650 Straftaten und verletzen viele Menschen. Das bedeutet, dass Polizei, Krankenhäuser und Gerichte eingeschalten werden. Und das kostet Geld.
Das „Toleranz-Projekt“ dagegen kommt für denselben Zeitraum auf gerade mal 1,2 Millionen Euro Kosten. Das zeigt: Der Preis von Hass und Gewalt ist viel höher als in Prävention zu investieren.
Der größte Erfolg für die Träger ist es jedoch, dass sie junge Menschen dazu bringen, miteinander zu reden, zu lernen und in ihrer Stadt friedlich zusammenzuleben.
Die Geschichte von John Hron wurde 2013 verfilmt. Die Produktion haben Spenden möglich gemacht.