Die französische Regierung prügelt ihre Rentenreform mit einer umstrittenen Klausel durch das Parlament. Gleichzeitig sollen Vorkehrungen gegen das Coronavirus nun Massendemonstrationen in ganz Frankreich verhindern.
Das man muss man ihm lassen – der französische Premierminister Édouard Philippe hat den Zeitpunkt gut gewählt. Für seine Zwecke zumindest. Ein Samstagabend im Parlament: Eigentlich sollte es um Maßnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus gehen – es waren nur wenige Abgeordnete zugegen. Da kündigte der Premierminister unvermittelt das an, was in der französischen Politik auch als „parlamentarische Atomwaffe“ gehandelt wird: Das sogenannte 49-3. Denn, so der Premierminister, er glaube nicht, „dass unsere Demokratie sich den Luxus eines solchen Spektakels leisten kann.“ Das Spektakel, von dem hier die Rede ist, heißt: eine parlamentarische Abstimmung. Und das Gesetz, um das es geht: die umstrittene Rentenreform.
“49-3” peitscht Rentenreform durch
49-3 ist eine Klausel in der Verfassung und trägt den Namen deshalb, weil es es sich um den Paragraph 49 Absatz 3 handelt. Die ausgesprochene Zahl – neunundvierzig-drei – ist in Frankreich ein geflügeltes Wort und den meisten Französinnen und Franzosen ein Begriff. Normalerweise werden Gesetzesentwürfe in einer Demokratie einer parlamentarischen Debatte unterzogen und dann von den Abgeordneten gewählt – oder eben verworfen. Die Klausel 49-3 setzt diesen Prozess einfach aus: Die Regierung setzt ein Gesetz ganz ohne Parlament durch. Ein autoritäres Schlupfloch in der Demokratie.
Während die Protestrufe der wenigen anwesenden Abgeordneten laut werden, beteuert der französische Premierminister, er tue das, um Verantwortung zu übernehmen. Die Debatte um die Rentenreform sei nicht konstruktiv gewesen und es habe „zu viele Änderungsanträge“ an dem Gesetz gegeben. Tatsächlich ganze 41.000 – davon mehr als die Hälfte von der linksradikalen Partei Les Insoumis und 13.00 von der kommunistischen Partei. Die Oppositionsparteien verfolgten damit die Taktik, für ein Thema mehr Redezeit zu bekommen. 600 Änderungsanträge für die Pensionsreform kamen allerdings auch aus der Regierungspartei. Dass die französische Regierung auf die Kritik an der Rentenreform antwortet, indem sie jegliche Form der Debatte und Abstimmung einfach unterbindet, dürfte die Gemüter allerdings bei Weitem nicht beruhigen.
Proteste im Parlament und auf der Straße
Daraufhin rannte die Opposition, um der Regierung das Misstrauen auszusprechen. Doch nach Philippes Ankündigung hatten sie nur 24 Stunden Zeit, um genügend Unterschriften für ein Misstrauensvotum zu bekommen. Das ungünstige Timing hat ihnen Édouard Philippe vorgegeben – ein Sonntag – und die Anträge sind am Dienstag im Parlament gescheitert. Macrons Partei LREM (La République en Marche, Die Republik in Bewegung) hat im Parlament eine absolute Mehrheit. Auch wenn sich alle Oppositionsparteien von links und rechts zusammen tun, können sie die Koalition aus Marcons LREM und der wirtschaftsliberalen Partei MoDem nicht überstimmen.
Noch schneller reagierten die Gegner der Rentenreform auf der Straße: Tausende Menschen versammelten sich spontan vor dem Parlamentsgebäude in Paris, dem Bourbon Palast. Unter anderem waren Gesänge zu hören wie „Generalstreik, lalala“, aber auch immer wieder jene berühmt gewordenen Melodien und Reime, die die Wut auf Präsident Emmanuel Macron ausdrücken.
Seit Monaten Proteste gegen Rentenreform
„Das ist ein zutiefst skandalöses Verhalten“, äußerte sich der Gewerkschaftsvorsitzende Philippe Martinez noch am selben Abend in Bezug auf die Regierung. Darauf werde es eine entsprechende Antwort geben, sagte er der französischen Presseagentur: „Wenn man nicht überzeugen kann, dann zwingt man uns, das ist typisch für die Regierung“. Seine Gewerkschaft CGT und andere Gewerkschaften, aber auch Gelbwesten und politische Organisationen, riefen zu Protesten gegen das Vorgehen der Regierung auf. Seit Samstagabend fanden jeden Tag Demonstrationen statt.
Gewerkschaften wollten diese Woche ohnehin zusammenkommen, um eine neue Streik-Strategie zu planen. Seit drei Monaten streiken klassenübergreifende etliche Berufsverbände in Frankreich gegen die geplante Rentenreform. Zwei Drittel der Bevölkerung befürworten laut Umfragen den Streik. Es gibt viele Französinnen und Franzosen, die zum Teil Monatsgehälter verloren oder übermäßige Polizeigewalt erlitten haben, und die sich immer noch nicht ernst genommen fühlen.
Macron bleibt hart
Angesichts der bevorstehenden parlamentarischen Abstimmung gab es nun den Plan, einen flächendeckenden Streik umzusetzen, der das Land noch viel mehr lähmt als die Streiks und Proteste der letzten drei Monate es ohnehin schon taten. Nun kann sich der Plan zwar nicht mehr auf eine bevorstehende parlamentarische Abstimmung beziehen – die ja hinfällig geworden ist. Das Durchboxen der Rentenreform mit der 49-3 dürfte die TeilnehmerInnen dieses Treffens allerdings zu anderen Plänen bewegen.
Trotzdem ist die Situation bezeichnend – und könnte im schlimmsten Fall dem rechten Rand in die Hände spielen. Macron und sein Premierminister Édouard Philippe schaffen es nämlich, in der französischen Öffentlichkeit noch undemokratischer als die rechtsextreme Marine Le Pen wahrgenommen zu werden. Und die nutzt das natürlich prompt. Ihre Partei RN (Rassemblement National, Nationale Sammlungsbewegung) kündigte an, für alle Anträge auf ein Misstrauensvotum zu stimmen, egal aus welcher Partei der Antrag käme.
“Ansteckungsgefahr”: Demonstrationen untersagt
Was in der Parlamentssitzung am Samstagabend aber ebenfalls beschlossen wurde: Demonstrationen mit über 5.000 Menschen werden wegen Ansteckungsgefahr und Coronavirus vorerst verboten. Die Nachricht wird von den Menschen auf der Straße mit Hohn aufgenommen: Die Straßen Frankreichs sind nicht nur am Wochenende, sondern auch wochentags voller Menschen – sowohl in Paris als auch in zahlreichen anderen französischen Städten. Trotzdem können Behörden Demonstrationen nun auf ganz legalem Weg unterbinden.