Am 25. April beschloss die schwarz-blaue Regierung die „Sozialhilfe Neu“. Das Gesetz ersetzt die Mindestsicherung und bedeutet für die Betroffenen Kürzungen. Denn der Gesamtbetrag an Einkommen wird gedeckelt – selbst Zuschüssen von Land oder Gemeinde werden abgezogen. Vor allem Kinder werden nicht zureichend vor Armut geschützt. Nun bringt die SPÖ gegen das Gesetz eine Klage beim Verfassungsgerichtshof ein.
Dass ein Bundesland oder eine Gemeinde Sozialhilfe-Bezieher unterstützt, ist mit dem Sozialhilfe-Gesetz defacto nicht mehr möglich. Denn alles, was die Bezieher bekommen, wird von der Mindestsicherung abgezogen. Wer arm ist, darf nicht mehr als 885,47 Euro haben – so will es das Gesetz. Am härtesten trifft die „Sozialhilfe Neu“ Kinder, Lernschwache und Familien mit behinderten Kindern.
Kürzungen bei Familien verstößt gegen Kinderrechte
Mehr als die Hälfte aller Mindestsicherungsbezieher lebt in Familien mit Kindern. Und Kinder sind besonders vor Armut zu schützen, denn sie können nichts für ihre Notlage. Das steht auch in den Kinderrechten, die in Österreich als höchstes Gesetz auf einer Ebene mit der Verfassung gelten. Doch im schwarz-blauen Gesetz wird besonders bei Kindern gekürzt: Zwar gibt es für das erste Kind einen etwas höheren Mindestsicherungs-Betrag von 216 Euro (statt bisher mind. 155 Euro). Ab dem 2. Kind gibt es allerdings drastisch weniger: Das zweite Kind bekommt nur mehr 129 Euro und jedes weitere nur noch 43 Euro monatlich. Das sind 1,50 Euro am Tag, von denen sie leben müssen.
Über 54.400 Familien mit drei oder mehr Kindern sind von diesen Kürzungen betroffen.
Grundsätzlich ist eine Abstufung laut Verfassung erlaubt, allerdings sind die Stufen der Sozialhilfe Neu zu hoch. Dem dritten (und vierten, etc.) Kind wird nicht einmal 5 Prozent (das wären 44,27 Euro) dessen zugestanden, was andere bekommen. So werden 70.000 Kinder in die Armut geschoben. Sie werden nicht vor einer sozialen Notlage geschützt, was laut Verfassung allerdings garantiert werden muss.
Bestrafung statt Anreize
Außerdem ist die Auszahlung von über einem Drittel der Sozialhilfe von der Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt abhängig. Was die Regierung Kurz „Arbeitsqualifizierungs-Bonus“ nennt, ist aber kein Bonus. Es ist ein Strafsystem. Denn man kriegt nicht mehr, wenn man eine Vorgabe erreicht – nur weniger, wenn man sie nicht erreicht. Und zwar zu wenig zum Leben.
Eine Vermittelbarkeit ist laut Gesetz erst dann gegeben, wenn Deutsch auf Sprachniveau B1 oder Englisch auf Sprachniveau C1 (das Matura-Niveau liegt für Englisch bei B2, also darunter) gesprochen wird. Diese Regelung ist unverhältnismäßig – in vielen Sparten, wie auf einer Baustelle oder in einer Gastro-Küche kann auch ohne diese Sprachkenntnisse gearbeitet werden.
Das Gesetz nimmt weder Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit, noch auf das Engagement bei der Erreichung der Vorgaben.
Kürzung bei Sprachdefizit trifft auch Lernschwache
Für die SPÖ ist die Kürzung der Sozialhilfe um ein Drittel bei mangelnden Sprachkenntnissen verfassungswidrig. Denn das trifft auch Analphabeten oder Menschen mit Lernschwäche. In Österreich sind das immerhin 4 Prozent der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren. Rund 225.000 Menschen sind des Lesens und Schreibens nicht mächtig.
Hinzu kommt der funktionale Analphabetismus, also Menschen, die nicht sinnerfassend lesen und sich kaum schriftlich ausdrücken können. Sie sind von einem B1-Niveau weit entfernt und somit auch von einer existenzsichernden Sozialhilfe. Das betrifft immerhin 960.000 Österreicher und Österreicherinnen. Wer von ihnen auf Sozialhilfe angewiesen ist, wird um ein Drittel weniger bekommen.
Bundesregierung schränkt die Freiheit der Bundesländern ein
Für verfassungswidrig hält die SPÖ auch den massiven Eingriff in die Freiheit und Abhängigkeit der Länder. Das „Armenwesen“, wie es in der Verfassung heißt, ist Sache der Länder. Die Regierung versucht das über ein sogenanntes Grundsatzgesetz zu umgehen. Doch im Fall der Sozialhilfe Neu werden die Spielräume der Bundesländer eingeschränkt – und das hat Folgen. Denn das die Bedürfnisse in Wien andere sind als in einer 1.000 Menschen Gemeinde, ist offensichtlich. Es gibt keine Möglichkeit, auf regionale Besonderheiten – etwa die Anzahl der geförderten Landes- und Gemeindewohnungen, oder die durchschnittlichen Mietkosten – Rücksicht zu nehmen. Außerdem kann das Land Personengruppen – wie etwa Kinder mit Behinderung – nicht mehr gezielt unterstützen. Das Grundsatzgesetz ist so streng, dass die Bürger defacto keinen Einfluss mehr darauf haben, was sie in ihrem Augen notwendig ist.
Höhere Bezüge sind verboten, nur weitere Kürzung laut diesem Gesetz erlaubt. Länder könnten den Betrag also theoretisch bis auf Null hinuntersetzen.
Sozialhilfe Neu: Auf Kritik folgt Klage
Die Sozialhilfe Neu erfüllt ihre Aufgabe nicht: Sie kann keine Existenzen mehr sichern. Sie ist eine Rutsche in die Armut, aus der die Betroffenen nur schwer herauskommen. Auch Caritas, Volkshilfe und andere Sozialeinrichtungen haben die Sozialhilfe Neu als “schweren Fehler” kritisiert. Eingebracht wurde die Klage nun über den Bundesrat, in dem die SPÖ über die dafür nötigen Zweidrittel verfügt.
- Das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz verstößt mehrfach gegen die kompetenzrechtlichen Bestimmungen der Verfassung. Der Bund gibt die Grundsätze des Armenwesens vor, die Bundesländer sind für die konkrete Ausführung verantwortlich. Die Sozialhilfe Neu hat nur noch Spielraum nach unten. Es ist weit über das zulässige Maß hinaus konkretisiert und bestimmt.
- Die Sozialhilfe Neu regelt ebenfalls viel zu detailliert den Kreis der Bezugsberechtigten der Sozialhilfe. In Abs. 1 leg.cit. wird der Kreis der Anspruchsberechtigten taxativ festgelegt; das bedeutet, dass Personen die nicht von diesem Kreis umfasst sind, werden vom Bezug jeglicher Sozialhilfe ausgeschlossen werden.
- Der Bundesgesetzgeber hat mit dem angeordneten Vorrang von Sachleistungen den Landesgesetzgebern jede Möglichkeit genommen, auf individuelle Gegebenheiten im Land Bedacht zu nehmen. Das stellt aber jedes Bundesland vor unterschiedliche Herausforderungen: Die Länder verfügen in ganz unterschiedlichem Ausmaß über eigenen Wohnraum, die vom Bundesgesetzgeber angebotene Alternative der Mietzinszahlung durch das Land als indirekte Sachleistung verringert den Anreiz für die Betroffenen, ihre Wohnsituation selbst zu managen.
- Die gesetzlich für Länder vorgesehene Verpflichtung, im Rahmen von Sachleistungen sprach- und berufsqualifizierende Maßnahmen durchzuführen, ist nicht Kompetenz des Bundes. Die Finanzierung von Sprach- und Berufsqualifikationskursen kann den Ländern nicht im Rahmen eines Grundsatzgesetzes nach dem Kompetenztatbestand „Armenwesen“ vorgeschrieben werden. Das Armenwesen dient ausschließlich der Abdeckung des dringendsten Lebensbedarfes von sozial hilfsbedürftigen Personen.
- Die vom Bundesgesetzgeber vorgenommene konkrete Vorgabe von je nach Personenanzahl und -zusammensetzung unterschiedlich hohen, nicht überschreitbaren Höchstsätzen für Sozialhilfeleistungen (§ 5 Abs. 2 SH-GG) geht über den zulässigen Inhalt einer Ermächtigungsnorm für die Länder hinaus. Dem Landesgesetzgeber steht es auf diese Weise nicht mehr frei, besondere Regelungen für Mehrpersonenhaushalte (Familien) zu schaffen, obwohl hier grundsätzlich ein anderer Bedarf vorliegt als bei Einpersonenhaushalten. Darüber hinaus sind Höchstgrenzen auch insofern bedenklich, als das Grundsatzgesetz auch ein Absenken der Leistung durch die Länder möglich macht, die mangels Festsetzung einer Untergrenze bis auf Nul l gehen kann.
- Die Leistungen der Sozialhilfe Neu sollen aus öffentlichen Mitteln „integrationspolitische und fremdenpolizeiliche Ziele berücksichtigen“ und „insbesondere die (Wieder)Eingliederung von Bezugsberechtigten in das Erwerbsleben und die optimale Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes weitest möglich fördern“ Beides hat mit dem Verfassungsgrundsatz „Armenwesen“ nichts zu tun.
- Verfassungswidrig ist aber auch die vom Gesetzgeber beabsichtigte Rückstufung der Sozialhilfe gegenüber der Mindestsicherung auf bloße „Unterstützung des allgemeinen Lebensunterhalts“ anstelle der bisher in der (früheren ) Sozialhilfe und in der Mindestsicherung (erforderlichenfalls) vorgesehenen Deckung dieses Bedarfs. Der Bundesgrundsatzgesetzgeber setzt aber mit dem SH-GG die Vorgaben aus dem Tatbestand „Armenwesen“ nur unzureichend um. Der Tatbestand „Armenwesen“ umfasst nämlich nicht nur einen „Unterstützungsbeitrag“, sondern geht offenbar darüber hinaus und beansprucht auch die Beseitigung von sozialen Notlagen bei hilfsbedürftigen Personen und sichert ein entsprechendes „Existenzminimum“.
- § 5 Abs 2 SH-GG gibt eine degressive Gestaltung der monatlichen Leistungen an in Haushaltsgemeinschaften lebende Bezugsberechtigte vor. Überschreitungen sind nur in Ausnahmefällen zulässig. Grundsätzlich sind nach der Judikatur des VfGH degressive Abstufungen zulässig, jedoch müssen diese gewährleisten, dass bei zunehmender Größe eines Haushalts für jede weitere Person auch ein zusätzlicher Aufwand Anerkennung findet; es muss ein Sicherheitsniveau geschaffen sein, das den konkreten Bedarf der einzelnen Personen im Haushalt angemessen berücksichtigt. Ein Höchstsatz von 5 % (= EUR 44,27 pro Monat!) des Netto-Ausgleichszulagenrichtsatzes für das dritte und jedes weitere einem Haushalt zugehörige Kind überschreitet den verfassungsrechtlichen Spielraum einer degressiven Abstufung. Es handelt sich um eine sprunghafte Kürzung, die zu niedrig bemessen ist, um den konkreten Bedarf des Lebensunterhaltes noch angemessen abdecken und eine soziale Notlage der Haushaltsgemeinschaft vermeiden zu können. Damit verstößt diese Norm aber auch gegen das BVG Kinderrechte.
- Unsachlich ist aber auch die Deckelung der Geldleistungen, die bei Haushaltsgemeinschaften mit mehreren volljährigen Bezugsberechtigten mit 175 Prozent des Netto-Ausgleichsrichtsatzes bestimmt wird. Bereits ab der dritten erwachsenen Person in einem Haushalt wird dieser auf diese Art ein geringerer Bedarf zugebilligt. Weiters und vor allem findet der zusätzliche Bedarf von Kindern, die diesem Haushalt zugehören, keinerlei Berücksichtigung mehr. Diese Regelung ist nach den ErläutRV, S 6. auf sogenannte „gewillkürte Haushaltsgemeinschaften“ ausgerichtet. Tatsächlich trifft diese Regelung Familien mit mehreren (allenfalls auch größeren) Kindern. Diese Norm ist als überschießend und unsachlich zu qualifizieren. Eine starre Deckelung der Bezugshöhe bei Haushalten mit mehreren Personen wurde wegen Unsachlichkeit der Regelung auch bereits im burgenländischen MSG und im NÖ MSG als unsachlich aufgehoben.
- Mindestens 35 Prozent des Sozialhilfeanspruchs sind von der Vermittelbarkeit am österreichischen Arbeitsmarkt abhängig zu machen (“Arbeitsqualifizierungsbonus”). Es wird eine Vermittelbarkeit am österreichischen Arbeitsmarkt unterstellt, dass diese nur bei Sprachniveau B1 (Deutsch) oder C1 (Englisch) bzw. bei Pflichtschulabschluss mit Deutsch als primärer Unterrichtssprache gegeben sein soll. Die Vorgaben sind überschießend und unverhältnismäßig, da eine Vermittelbarkeit in bestimmten Sparten (z.B. Bauwirtschaft) auch schon unter dem vorgegebenen Sprachniveau besteht. Das Niveau B1 bzw. C1 ist zu hoch, um als gelindestes Mittel für die Zielerreichung (Vermittelbarkeit) sachlich gerechtfertigt zu sein. Auch zB Analphabeten, die ohne ihr Verschulden außerstande sind, ein derart hohes sprachliches Niveau zu erreichen, benötigen die vollen Leistungen der Sozialhilfe, wenn sie in Not geraten.