Hätte der Terroranschlag am 2. November 2020 in Wien verhindert werden können? Wer trägt die Verantwortung am Behördenversagen? Diesen Fragen ging eine Untersuchungskommission nach, die am Mittwoch ihren Bericht veröffentlichte. Im Fokus stehen das Innen- und das Justizministerium, die für Sicherheit im Land sorgen sollten. Zusammengefasst: Es steht schlecht um den Staatsschutz.
Der Untersuchungsbericht zum Terroranschlag von Wien liegt vor. Und er zeigt verheerende Zustände in Österreichs Terrorabwehr. Die Dienststellen in Justiz und Polizei hätten “relevante und ausreichende” Informationen über den Terroristen, der im November in Wien vier Personen getötet hatte, gehabt – hätten sie die Ermittlungserkenntnisse miteinander geteilt.
Sowohl dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) und dem Wiener Landesamt (LVT) attestiert die Kommission “Fehlleistungen”: Personell, technisch, organisatorisch und strukturell findet die Kommission um Strafrechtsprofessorin Ingeborg Zerbes schwere Mängel in den Behörden, die dem von der ÖVP geführten Innenministerium unterstehen.
Missstände in Innen- und Justizministerium
Die Kommission wurde von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) und Justizministerin Alma Zadic (Grüne) eingesetzt. Die Frage: Wie konnte es zum Anschlag am 2. November 2020 in Wien kommen, bei dem vier Menschen starben? Hätte er verhindert werden können? Wer trägt die Verantwortung am Behördenversagen?
Klar ist: Der Verfassungsschutz hat zu langsam und zu schlampig gehandelt. Die Gefährdungseinschätzung wurde nicht zwischen den zuständigen Stellen besprochen, wesentliche Informationen enthielten die Beamten einander gegenseitig vor.
Schon im Zwischenbericht stellt die Kommission schwere Pannen im Verfassungsschutz fest. Der Täter stand im Visier ausländischer Behörden, die Österreichs Verfassungsschützer mehrmals informierten. Unter anderem, als mehrere europäische Dschihadisten zu einem Treffen mit dem Attentäter nach Wien kamen, und als er im benachbarten Ausland Munition kaufen wollte. Trotz eindeutiger Hinweise hat das BVT den Täter nicht überwacht.
Die wichtigsten Erkenntnisse der Zerbes-Kommission zeigen ein beunruhigendes Bild. “Der Verfassungsschutz hat zwei Probleme: Die Politik und sich selbst”, formuliert es Falter-Redakteur Martin Staudinger im ORF III-Gespräch.
Die Untersuchung des Terroranschlages habe “erhebliche Mängel der Bekämpfung terroristischer Straftaten aufgezeigt”, heißt es im Bericht.
Eine Verschärfung der Gesetze, wie die ÖVP und Grüne im Anschluss an den Anschlag forderten, sieht die Expertenkommission allerdings nicht als Lösung. Auch fehle es nicht an Befugnissen für Polizei oder Gerichte. Die Mängel, die dazu führten, dass die Terrortat nicht verhindert wurde, “liegen im unzureichenden Informationsaustausch zwischen allen beteiligten Stellen”, also zwischen Innenministerium und Justizministerium sowie den Ermittlungs- und Exekutivbehörden.
Terrorschutz völlig zerrüttet
Die mangelnde Kommunikation, die dazu führte, dass der Terrorist nicht eng genug überwacht wurde, ist auf “Organisationsprobleme” zurückzuführen. Eine große Lücke im Sicherheitsapparat liegt aber auch in der “Behördenkultur”, sprich im BVT. Beamte wurden zur “Auswertung, Dokumentation und Analyse für die Risikobewertung” herangezogen, die für diesen wichtigen Aufgabenbereich nicht geeignet waren. Außerdem beklagen die Befragten einen akuten Personalmangel.
Dieser falsche Personaleinsatz “könnte zu mangelndem Engagement, Qualitätsproblemen und Verzögerungen bei der Arbeit beigetragen haben”, schlussfolgert der Bericht.
Auch die Arbeitsatmosphäre ist im BVT nachhaltig beschädigt – die Beamten vertrauen sich teilweise nicht einmal gegenseitig. Sie leben mit einem seit Jahren angekündigten Umbau, der dann nie durchgezogenen wird. Hinzu kommt eine später für rechtswidrig erklärte Hausdursuchung im BVT, Anklagen gegen Mitarbeiter*innen, ein massiver Vertrauensverlust von ausländischen Geheimdiensten am BVT, die negative mediale Berichterstattung und die im Hinblick auf den bevorstehenden Umbau restriktiv gehaltene Nachbesetzungspolitik. Der Kommission wird von einem Klima des Misstrauens und von unbewältigten Konflikten berichtet.
Herbert Kickl hinterließ “Verwüstung”
Die wichtige Frage nach den Verantwortlichen für den nicht vereitelten Anschlag lässt sich nicht klar beantworten. Die genannten strukturellen Defizite haben sich schon lange aufgebaut. Seit 2000 war das Innenministerium in ÖVP-Hand, bis es im Dezember 2017 von Kanzler Kurz in die Hände von Herbert Kickl gelegt wurde. Wir erinnern uns: Dieser hat als Minister in der eigenen Behörde für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung eine rechtswidrige Razzia im BVT vornehmen lassen.
Die Razzia hat nicht nur das Image des Terrorschutzes in Österreich, sondern international nachhaltig beschädigt; ausländische Behörden haben sich abgewendet, die Kooperation hat massiv gelitten. In der Behörde hinterließ Kickl eine “Verwüstung, Frustration und Demotivation”, erklärt Staudinger vom Falter. Das Verhältnis innerhalb der Behörde ist von Misstrauen geprägt, schreibt die Kommission.
Ministerium schneidet Arbeit der Kommission
Was der Bericht nicht beantwortet, ist die Frage, ob Innenminister Nehammer von der Terrorgefahr wissen hätte müssen. Das liegt daran, dass das Innenministerium schlicht die Fragen der eigens engagierten Expertinnen und Experten nicht ausreichend beantwortet hat, so Zerbes. Eine Recherche von “Zackzack” legt sogar nahe, dass Nehammer Teile eines Berichts schwärzen ließ, die belegen sollten, dass er von der Terrorgefahr des späteren Attentäters wusste.
Die Kommission empfiehlt einen besseren Informationsfluss zwischen den Behörden und dem Strafvollzug, der der Justizministerin unterstellt ist. Vor allem bei der Haftentlassung müssen Informationen zwischen JustizwachebeamtInnen, BewährungshelferInnen, DeradikalisierungsexpertInnen und PsychologInnen in Fallkonferenzen zentral zusammenlaufen. Auch die SPÖ forderte am Dienstag bei einer Pressekonferenz eine Neuaufstellung des Sicherheitsapparates. Zur besseren Zusammenarbeit schlagen die Sozialdemokraten einen sicherheitspolitischen Koordinator vor, der “auf strategischer Ebene” die Kommunikation der einzelnen Stellen regelt.
Klar ist: Die Gefahrenlage ist unverändert. Noch immer weiß man nicht, in welches Netzwerk der Attentäter eingebunden war. Die Kommission weiß: “Um diese Schwachstellen zu beseitigen, bedarf es eines nachhaltigen politischen Willens, einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen und eines langen Atems.”